Regina Rühlemann
  Älteres aus meiner Schreibwerkstatt
 

Ännchen

 
Es waren einmal zwei Brüder, die liebten dasselbe Mädchen. Eine Tragödie!
Für wen würde sich Ännchen entscheiden? Für den überschwänglichen Dichter Simon oder für dessen Bruder, den stillen, fleißigen Landarbeiter?

Änne ließ sich Zeit mit ihrer Entscheidung. Dann stand es fest, sie entschied sich für das einfache Leben auf dem Lande.
Der Poet war untröstlich und machte dem Brautpaar ein Gedicht zum Geschenk, in das er alle seine Gefühle hineinlegte. Ob es dem Bruder gefallen hat?
Das Gedicht, später als Lied vertont von Friedrich Silcher, kennen wir alle:

Ännchen von Tharau, ist´s die mir gefällt.
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
auf mich gerichtet in Kummer und Schmerz.

Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meiner Seele, mein Fleisch und mein Blut. 

Käm´  alles Wetter gleich auf und zu schlah´n.
Wir sind gesinnt, beieinander zu stah´n.
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein,
soll unser Liebe Verknotigung sein. 

Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meiner Seele, mein Fleisch und mein Blut.

Würdest du gleich einmal von mir getrennt,
lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt.
Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer,
Eisen und Kerker und feindliches Heer.

Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn`,
mein Leben schließt sich um deines herum.

  

Auf Dummenfang

 
Begonnen hatte alles mit einem Anruf.
Schon während des Gesprächs klingelten meine Alarmglocken.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung stellte sich mit Fa. Lux aus Neubrandenburg vor und ich hätte einen Gutschein gewonnen.
Wer denn? Ich ? Wobei denn? Wieso ich? 

Ich wollte gerade dankend auflegen, als mir die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung ankündigte, was ich alles mit diesem Gutschein anfangen könnte. Am Dienstag 17 Uhr käme der Kollege Z. vorbei und würde mir diesen überreichen.
Ich könnte mir eine Generalreinigung meiner Backröhre, der Badfliesen oder eine Teppichreinigung aussuchen.
Die Verlockung war groß. 

Mein Mann hatte gleich etwas dagegen.
"Mach was du willst, ich bin nicht zu Hause." 

Total verunsichert rief ich meine Freundin an.
"Bist du wahnsinnig! Lass keinen in die Wohnung! Wer weiß was der will!
Vielleicht will er dich überfallen oder etwas mitgehen lassen." 

Nun hatte ich es mit der Angst bekommen. Eine Telefon-Nr. hatte ich nicht, nur den Firmennamen.
Die gelben Seiten zeigten keine Reinigungsfirma Lux aus Neubrandenburg an. Sogar im Internet suchte ich unter Lux mit x  und Luchs mit chs. Ohne Erfolg!
Der Chef der Greifswalder Reinigungsfirma Götz kannte auch keine Konkurrenz mit Namen Lux.
Nach einer fast schlaflosen Nacht rief ich meine Tochter an.

 "Mutti, das war ein Call-Center, das sich bei dir gemeldet hat. Das hatte von der Fa. Lux den Auftrag, Kunden zu werben. Mit Speck fängt man eben Mäuse."
Sie sagte mir noch, das ist ein Staubsauger-Vertreter, der seine überteuerten Geräte loswerden möchte. 

Weil sie Hausstaub-Allergikerin ist, hatte sie sich vor Jahren solch ein teures Teil auf Abzahlung angeschafft. 

Der Dienstag 17 Uhr kam heran. Es klingelte.
Aus dem Fahrstuhl stieg ein mittelgroßer älterer Herr mit einer Mappe unter dem Arm, der mir einen Gutschein über eine General-Teppichreinigung vor die Nase hielt.
Bevor ich ihn in die Wohnung ließ, musste er mir erst noch einmal sein Anliegen erläutern, Name, Firma und Ausweis ließ ich mir vorsichtshalber geben und zeigen. Auch meine Nachbarin hatte ich alarmiert, ein Auge und ein Ohr auf uns zu halten an diesem Tag und zu dieser Zeit. 

Mein Mann hatte sich überreden lassen, zu diesem Termin anwesend zu sein.
Geld, Geldkarte und Handtasche hatte ich vorher an einem sicheren Ort deponiert, man konnte ja nicht wissen! 

Nach einem halbstündigen Informationsgespräch holte der Vertreter aus seinem überdimensionalen 1. Klasse-Wagen ein Monstrum in der Größe eines Kindersarges heraus. Schwarz, kofferartig, länglich.
Der Inhalt dieses Behälters barg einen Staubsauger mit allen möglichen technischen Raffinessen und ließen die Augen begehrlich leuchten, weil unser derzeitiger Staubsauger gerade dabei war, seinen Geist aufzugeben. 

Was nun folgte, war eher peinlich als verständlich.
Der gesprächige Mann bewies mir, dass wir mit einem völlig versandeten und mit Hausstaubmilben durchsetzten Teppich im Flur und im Wohnzimmer zusammen lebten. Es würde nur so von diesen Tierchen in unserer - so dachte ich - sauberen Wohnung wimmeln. Das war schon erschreckend.
Sogleich machte er sich mit seinem Supergerät über einen Sessel her.
Als er den Inhalt aus dem Stoffbeutel auf ein weißes Blatt Papier entleerte, war ich entsetzt und fast überzeugt, dass ich nicht weiter mit solchen unsichtbaren Lebewesen unter einem Dach wohnen wollte.
Als er mir aber den stolzen Preis von 1658,-- Euro präsentierte, war ich noch mehr geschockt und wollte diese Schattenwesen auch weiter in der Wohnung dulden. 

Auch sein Entgegenkommen, am Aktionstag kostet das Vergnügen 200 Euro weniger als sonst, überzeugte mich nicht. Für diesen Preis könnte ich mir zehn Staubsauger einer guten Firma leisten. So viele würde ich bis zum Lebensende bestimmt nicht mehr um die Ecke bringen. 

Wie endete die Aktion? 

Trotz Ankündigung nie mehr Staubsaugerbeutel kaufen zu müssen und jährliche Wartung des Gerätes durch die Firma Lux, musste der gute Mann mit seinem Riesenkoffer unverrichteter Dinge von dannen ziehen. Aber wir hatten kostenlos einen absolut sand- und milbenfreien Flur- und Wohnzimmerteppich, denen die ganze Prozedur bestimmt  gut getan hat.

Bettnachbarn

In den blühenden Lindenbäumen brummte und summte es, als hätte man einen Stecker reingesteckt. Und es duftete die ganze Pappelallee hoch und runter.
Die Bänke, die sonst zum Verweilen einluden, klebten vom Blütenstaub  und –nektar, aber trotzdem hatten sich zwei Freigänger aus der nahen Klinik darauf niedergelassen und genossen die Frühlingssonne. 

„Ich habe einen Bettnachbarn, bei dem kann man zum Jäger und Sammler mutieren“ begann der eine zu erzählen.
„Wieso das?“ Sein Nebenmann zeigte Interesse.
„Er hat in jeder Hosentasche einen Haufen Geldscheine, die er regelmäßig irgendwo herauszieht und verliert. Sogar im Bad fand ich gestern einen zusammengeknüllten 20-Euro-Schein.“
„Das müsste mir  mal passieren!“ Der Banknachbar sah sich wohl schon im Geiste die Scheine aufheben und zur Seite legen.
„Na, das kann man doch nicht machen. Ich hebe sie zwar auf, gebe sie aber seiner Frau zurück, wenn sie zu Besuch kommt. Sie kennt das wohl schon.
Neulich wollte er sich sogar in mein Bett legen und behauptete stock und steif, es sei sein Bett. Als er aber meinen Bademantel anziehen wollte, wurde es mir zu bunt.
Wir haben gestritten. Dafür ist er mit meinem Anorak losgezogen und hat sich anschließend beschwert, dass der Tascheninhalt nicht stimmte. Ich hatte es zu spät bemerkt. Bloß gut, dass wenigstens meine Ausweise nicht weg waren.“
Seine Frau erzählte am Nachmittag:
„Mein Mann ist doch ein promovierter Tierarzt, stadtbekannt, viel beschäftigt und war ständig beruflich unterwegs.
Diese Unruhe hat er noch immer in sich, obwohl das Ziel nicht mehr klar ist.
Alle Türen muss sie zu Hause abschließen, sonst ist er weg und findet sich nicht zurück.“
Auf das Geld in seinen Taschen angesprochen, gab sie zu, dass sie es ihm zuteilt, sonst stellt er die ganze Wohnung auf den Kopf, bis er welches findet.
Aber sie sagte auch, die Scheine werden immer kleiner, dann ist es nicht so verlustreich, wenn er sie verliert. Doch ohne Geld geht es nicht. Er ist es gewöhnt, welches in der Tasche zu haben und lässt eher keine Ruhe.
„Ich weiß nicht, wie das noch enden soll. Er ist auch nachts in der Wohnung unterwegs. Und ein Platz im Pflegeheim ist immer noch nicht frei.“ 

Wie ein Häuflein Unglück saß die Frau neben seinem Bett. 

Die beiden Spaziergänger hatten sich nach dem Gespräch wieder auf den Rückweg in die Klinik gemacht. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. 

Nach ca. einem halben Jahr stand eine Todesanzeige in der Zeitung.
Die Frau des Zimmernachbarn war gestorben.
Sie hatte also zuerst die Segel gestrichen und hat der Belastung nicht standhalten können.
Aber wie wird es mit ihm weitergegangen sein?


Breslau – Eine Reise in die Vergangenheit

Unser Reisebus hielt nach der Stadtrundfahrt auf dem Parkplatz am Hotel Monopol.
Der Reiseleiter Jan hatte per Telefon ein Taxi dorthin bestellt.
 „Richard“, stellte sich der Fahrer vor. Er konnte perfekt deutsch sprechen.
 Nachdem er sich unsere Vornamen hatte sagen lassen, dachten wir: Jetzt geht’s los! Wir wollten uns in Breslau das Haus und das Umfeld ansehen, wo meine Mutter und die Großeltern gewohnt und gelebt haben. - Aber Richard fuhr noch lange nicht los. Erst musste der Preis für die Extra-Stadtführung ausgehandelt werden.
Mit 20 Euro für die knappe Stunde war Richards Gemüt beruhigt.
Aber nun kam er in Fahrt. Er stieg noch einmal aus und holte aus dem Kofferraum ein dickes ledergebundenes schwarzes Buch heraus, ein Adress- und Einwohnerverzeichnis von Breslau aus dem Jahre 1941.
Wie war der Name der Großeltern? Franz und Anna Schmidt. -  Richard blätterte.
Ach du lieber Schreck! Fast eine Seite mit Leuten, die Franz Schmidt hießen. Bestimmt 30mal derselbe Name, doch nur ein Reichsbahn-Zugführer Franz Schmidt.
Aber der wohnte damals nicht in der Hubenstraße 2, sondern in der Buddestraße 5.
Was war denn das?
Hatte ich mir eine falsche Adresse gemerkt?
Nein, auf dem Lehrvertrag meiner Mutter von 1932 stand: Tochter des Ehepaares Franz und Anna Schmidt, Hubenstraße 2.
Ich hatte die richtige Anschrift.
Also fuhren wir in diese Straße und zu diesem Haus. Es sollte ja noch stehen und sah so einigermaßen passabel aus.
Der Fotoapparat und die Filmkamera kamen zum Einsatz. Wir machten die Haustür auf, betraten den Flur mit den Stufen und der Windfangtür mit den bunten Glasscheiben, die zum Teil noch erhalten waren.
 Parterre rechts, hatte ich mir gemerkt. Hier ist meine Mutter also groß geworden, hat laufen gelernt, ist zur Schule und später in die Lehre gegangen. Mir war ganz feierlich zu Mute.
Aber Richard gab nicht nach. Sein Buch lügt nicht. In der Zwischenzeit hatte er sein Buch noch mal durchgeblättert. Dieses Mal sah er unter der Buddestraße 5 nach. Da wohnte also  ab 1941 der Reichsbahn-Zugführer Franz Schmidt. Demnach muss die Familie noch einmal umgezogen sein.
Nun fuhr er uns auch noch in die Buddestraße Nr. 5.
Es war nicht weit, praktisch um die Ecke.
Was uns hier erwartete, war eher erschreckend.
Ein ehemals verputztes Backsteinhaus mit vielen Einschussstellen aus dem 2. Weltkrieg, der Balkon abgestützt mit dicken Holzbalken, sah sehr baufällig aus, das Haus war aber noch bewohnt.
Natürlich stimmte das Bild nicht überein mit den Erzählungen und Geschichten der Großeltern. Die trafen eher auf die Hubenstraße zu. Aber 65 Jahre nach dem Krieg sind eine sehr lange Zeit für ein Haus ohne Restauration.
In der Tauentzienstraße hatte die Mutter Schneiderin gelernt, in der Höfchenstraße war der Fotograf, der die Familienfotos geschossen hat, ein nahes Parkgelände, dort sollte doch der Schrebergarten der Familie gewesen sein. Na ja, manches verändert sich, vieles findet man nicht wieder. Aber wir haben danach gesucht.
Wir waren dort, in der Stadt meiner Vorfahren. Haben uns dort umgesehen, wo sie gewohnt und gelebt haben. 

Es war erschütternd, weil es so alt aussah, aber für mich war es aufregend und feierlich. Eine Reise in die Vergangenheit. Zu gerne würde ich meiner Mutter und den Großeltern davon erzählen.

 

Das falsche Wort

 Großvater hatte sich im Nachbarort einen Heimplatz ausgeguckt.
„Nun habe ich endlich Zeit mich auszuruhen!“ waren seine Worte.
Er war irgendwie übrig geblieben. Die Frau und Tochter waren gestorben, die Enkel ausgeflogen in alle Richtungen. Das Haus war leer geworden.
Er, der endlich nach einem unruhigen Leben bei der Deutschen Reichsbahn das Leben genießen wollte, musste sein Heim verlassen, um in ein anderes Heim zu kommen. Er sah es als eine Übergangsstation. Aber war es ein „Heim“?

Und er wartete. Er wartete von morgens bis abends. Wartete, dass die Mahlzeiten eingenommen werden konnten, wartete auf besseres Wetter, wartete, dass das Fernsehprogramm begann und  vor allen Dingen wartete er auf das Wochenende und auf Besuch.
Es wurde nicht darüber gesprochen, dass er Heimweh hatte, aber sein Gesichtsausdruck, seine Körpersprache und seine Gesten drückten aus, dass das hier nicht sein Heim war. 

Er war zum Spaziergänger geworden. Fein angezogen, wie er sonst nur sonntags aussah, trug er seinen grauen Anzug mit Oberhemd, Binder und seinen Hut nun jeden Tag.
Den Spazierstock zwischen seine Beine gestellt, ruhten seine Hände auf dem Knauf aus, so sahen wir ihn oft im Park sitzen, immer gespannt, immer in Warteposition, fast immer allein. 

Bis zu seinem 75. Geburtstag hatte er die zwei Gärten für die Familie bearbeitet, bestellt und abgeerntet. Nun saß er als feiner älterer Herr auf der Parkbank, tatenlos.
Er war nicht froh darüber.
Großvater konnte viel erzählen. Einmal hatte er zu mir gesagt:
„Es gibt drei Dinge im Leben, an denen man sich nicht satt sehen kann. Am Wasser, am Feuer und am Glück der Menschen.“
Er war weit herum gekommen durch seinen Dienst bei der Reichsbahn. Mit seiner Frau fuhr er gern ans Meer, auch wenn es nur die Ostsee war.
Mit uns Kindern war er zum Osterfeuer gegangen und hatte im Herbst ein Kartoffelfeuer mit dem Kraut entzündet, in dem wir Kartoffeln gebacken haben. Ganz schwarz haben wir sie aus der Glut herausgeholt, haben erst in die kleinen Flammen, dann in den Qualm gepustet.
Jetzt saß er abends wie gebannt vor dem Fernseher und nahm die aktuellen Nachrichten aus der Welt in sich auf. Reisen konnte er nicht mehr. 

Aber den Großvater so untätig auf der Parkbank sitzen zu sehen, vielleicht noch allein, das gab einem doch einen Stich.
Er hatte nur Arbeit gekannt, als junger Mann im Steinbruch, später bei der Eisenbahn. Im Winter war er immer als erster aufgestanden, hatte die vom Eis glasierten Steine im Hof und auf dem Gehweg mit Sand abgestumpft, damit sich keiner etwas tat, wenn er aufs Örtchen musste.
Und er liebte die Natur. Mit ihm konnte man über die mit Reif bedeckten Bäume und Sträucher staunen, in die Wolken sehen und einen Sonnenuntergang erleben. Er ist mit uns rodeln gegangen und hat uns mit zum Bahnhof genommen, um uns Lokomotiven und Güterzüge zu erklären. 

Nun wurde er nicht mehr gebraucht.
Im Heim musste er sein vorheriges Leben loslassen und was das Schlimmste war, er durfte seinen geliebten Dackel nicht mitnehmen, der sich fast umbrachte vor Freude, wenn wir ihn zu einem Besuch beim Großvater mitnahmen.
Nur ein einziges Mal hatte er gefragt:
„Was soll ich bloß hier?“

Als er schon lange nicht mehr lebte, erinnerte ich mich daran, wie wir manches Mal bei der Arbeit im Garten Wörter gesucht hatten. Schöne Wörter, hässliche Wörter, verdrehte Wörter oder Geheimwörter, die nur wir beide verstanden.
Einer von uns nannte ein Wort, der andere musste es einordnen.
Zum Beispiel Wiesenschaumkraut oder Sonnenschein, das waren schöne Wörter. Aber Kropf, Stumpf oder Ohrenschmalz waren hässliche Wörter. Lustig wurde es mit verdrehten Wörtern: Wir haben über Taubenhaucher und Kuschbänguruh gelacht und über Schuftlutztellerkreppen nachgedacht.
Aber wir fanden auch Wörter mit falscher Aussage wie z. B. Baumschule, Siebenschläfer und Esswerkzeug. 

Und nun lebte Großvater, der so mit Worten jonglieren konnte,  in einem Heim, das kein Heim für ihn war, nur wieder ein falsches Wort. 

 

Das Prominentenkind

Als gestandener Mann in der Mitte des Lebens hat er ein Buch geschrieben: Leben oder gelebt werden.
Das erste Mal bekam er den Ernst der Situation mit, als er in der Grundschule von mehreren Klassenkameraden zusammengeschlagen wurde, dass irgend etwas in seinem Leben nicht normal ist.
Er stellte fest, er lebte in zwei Welten und entwickelte den doppelten Blick, den Zooeffekt.
Zu Hause gab es die Geborgenheit in der Familie und vor der Haustür die raue Wirklichkeit. Bedrohung, Überwachung, Anfeindung, Ohnmacht.
So absurd es klingen mag: Er wurde als kleiner Junge schon für die Fehler oder auch das Ansehen seines Vaters verantwortlich gemacht. Das kann kein Kind verstehen.
Auf dem Fußballplatz ließ man ihn nicht mitspielen, weil er ja der Sohn seines Vaters war. Fremde bestimmten sein Leben. Das muss ein Kind erst einmal begreifen. 

Die Mutter war der Kern der Familie, der Vater viel abwesend. Nur mit der Politik und Führung des Landes beschäftigt.
Da ist die Erwartungshaltung der Eltern an das Kind groß.
Als Schleyer entführt und ermordet wurde, kam ihm zum Bewusstsein, wie nahe dran das Geschehen auch an seiner Familie ist. Er hatte 14 Tage vor der Entführung noch mit ihm gesprochen. Schleyer hatte ihn beruhigt und ihn bestärkt, dass man alles nicht so schwarz sehen sollte. Er brauchte doch keine Angst zu haben. Dann war er tot. 

Ab da gab es Überwachung der Mutter, der Kinder, des Vaters sowieso.
Die Mutter legte für den Fall einer Entführung Codewörter zurecht, die aussagen sollten, wo der Aufenthaltsort ist und wie der Gesundheitszustand ist. Sie lebten mit der Angst im Nacken. Sogar von einem Kopfgeld von 5 Millionen DM war die Rede.
Der Vater war der Meinung: Das muss man aushalten!
Immer leben mit der Fremdbestimmung.
Das brachte eine Sprachlosigkeit in der Familie mit sich, obwohl die Mutter alles tat, das Leben der Kinder so normal wie möglich zu gestalten. 

Nach dem Abitur stand für den Jungen fest: Ich möchte in einem Land leben, wo ich ein ganz normaler Student bin, der ohne Begleitschutz auf die Straße oder zur Universität gehen kann – tagsüber und auch nachts. 

Die Mutter erlitt eine schwere Lichtallergie. Vielleicht eine Folgeerscheinung von der Schmiergeldaffäre ihres Mannes. Die Psyche reagiert auf solche Schläge und Anfeindungen. Sie ging nicht oder kaum mehr vor die Tür. Hatte Schmerzen, vergrub sich in ihrem Haus. Verdunkelte die Fenster. Man sprach von Gesichtsverlust, was mit dem Selbstmord endete. Im Abschiedsbrief wünscht sie ihrem Mann und den beiden Söhnen alles Gute, aber sie konnte das Leben nicht mehr ertragen. 

Als Unbeteiligter stellt man sich das Leben eines Prominentenkindes in Saus und Braus vor, keine Geldsorgen, Reisen, Anerkennung, die besten Schulen, mehrere Sprachen.
Die Wirklichkeit ist eine andere.

 

 Das stille Örtchen

Man höre und staune, es gibt sogar einen Welttoilettentag. Auf diesem Welttoilettentag bespricht man die Toilettenverhältnisse in aller Welt.

Wie und wo gehen die Menschen auf das stille Örtchen? 

Man scheut sich nach wie vor, auf fremde Toiletten zu gehen. Es bleibt ein Tabuthema. Dabei gehören sie zum Stadtbild, zu jeder Wohnung. Viele Großstädte haben einen hygienischen Wohlfühltempel unter der Erde. 

Die Japaner schossen auf der Toilettenmesse den Vogel ab. Sie gewannen den Designerpreis für einen Traum aus schwarz-weißer Keramik. 

Warum ist es ein Ort der Stille? Man ist allein, privat, Intimsphäre. Keiner stört.
Es ist aber auch ein Ort des Denkens. Große Denker behaupten, dort haben sie die besten Ideen und Einfälle.
Auch als Ort des Lesens wird das stille Örtchen bezeichnet. Man hat herausgefunden, dass sich die meisten Menschen dort ungestört in eine Lektüre vertiefen können.
Chinesen bezeichnen die Toilette hochtrabend als „Halle der inneren Harmonie.“ 

Eigentlich ist die Toilette eine späte Erfindung. Einen Tiefpunkt erlebte die Toilettenkultur im Mittelalter. In manchen Burgen und Schlössern kann man noch heute den Anbau bestaunen, der aus der Burgwand herausragte, um die Abfälle nicht im Haus zu haben.
Dann folgte das Haus mit dem Herzchen. Im Toiletten-Museum in Gmunden (Österreich) kann man Toiletten aus mehreren Jahrhunderten bestaunen. Die Schüsseln waren kunstvoll bemalt, hatten aber schon die heutige Form. Sogar den Toilettenstuhl der Kaiserin Sissi hat man dort aufbewahrt, nun schon mit Deckel. Diese Stühle hatten die absonderlichsten Verstecke. Niemand vermutete in einem Bücherstapel oder in einem Hocker diesen Gegenstand.   

Naturvölker überraschen uns immer wieder mit ihren Praktiken. Gibt es das sibirische Wanderklosett wirklich? Benutzt man in Bolivien noch heute den Stamm eines Kaktus´ als Toilette und wie verfahren die Wüstenvölker? 

In Australien ist es zum Sport geworden, sich zum Kloschüsselweitwurf zu treffen und Wettkämpfe auszutragen. 

Wir haben heute den Vorteil, die Toilette mit Wasserspülung und Duftwässerchen direkt in der Wohnung zu haben. In der „Platte“ hatte sie kein Fenster, es war die Nasszelle der Wohnung.
Es ist kaum 50 Jahre her, da hatten unsere Eltern und Großeltern noch die Trockentoilette im äußersten Winkel des Hofes, die regelmäßig geleert werden musste. 

Wie wird die Toilette der Zukunft aussehen? 

Nur Knöpfe, Hebel und Schalter werden das stille Örtchen ausmachen. 

Die Hauptsache ist jedoch, man findet den richtigen Knopf zur richtigen Zeit.    


Das Ufer

Wenn man an einem See steht, hat das Ufer immer etwas Besonderes an sich.
Die Augen schauen über das Wasser, suchen die Badestelle, die ganz sacht ins Wasser führt, wo man im weißen Sand liegen kann oder im Schatten der Bäume ausruhen und nachdenken kann. 

Vielleicht ist aber auch ein Schilfgürtel am Gewässerrand. Wenn man ganz still steht, hört man den Wind durch das Schilf streifen. Es hört sich wie ein Flüstern an. 

Oder man steht an einem Flussufer und sieht die großen Schiffe vorbeiziehen. Wie gern möchte man mitfahren und sich in einer Außenkabine Land und Leute ansehen.
Fährt man aber übers Meer, ist das Schiff Wind und Wetter ausgesetzt und kann wie eine Nussschale hin- und herbewegt werden. Dann ist das Ufer weit. 

Ein ganz besonderes Ufer lernte ich in Magdeburg Hohen Warte kennen, da fließt die Elbe und über die Elbe kreuzt wie in einer Badewanne der Mittellandkanal, ein künstlicher Fluss. Wie in eine riesige Brücke eingebaut liegt diese schiffbare Badewanne und verbindet Ost und West. Es ist ein Wunder der Technik. 

Aber es gibt auch romantische Ufer und die Dichter haben sie besungen. Gemeint ist der Vater Rhein, die Mosel oder die Donau. Steht man an ihren Ufern, sieht man Weinberge, Burgen, Klöster und Flussinseln. Ungewohnte Anblicke für die, die im Flachland wohnen.
Es gibt viele schöne Orte an den Ufern der Flüsse. In grauer Vorzeit siedelte und baute man am Wasser, dem Lebenselixier. 

Ein besonders schöner Anblick ist der Rheinfall von Schaffhausen. Da stürzen und brausen die Wasser des Rheins etliche Meter tief, um dann – ruhig geworden – durch den Bodensee zu fließen. Vorher lagern sich Sand und Steine ab, die der Fluss auf seiner Reise aus den Alpen mitgebracht hat. 

Ufer haben immer einen besonderen Reiz.
Der 325 m tiefe Gardasee in Italien hat zum Beispiel an manchen Stellen gar kein Ufer, da ragen die steilen Felswände aus dem Wasser und an anderer Stelle kleben die Orte malerisch direkt am Felsen und sind fast bis ins Wasser hineingebaut. 

Das Ufer hat aber auch noch eine andere Bedeutung.
Nach einer langen Krankheit sehnt man sich danach, wieder an ein Ufer zu kommen. Oder man hat eine schwierige Aufgabe vor sich und möchte das rettende Ufer, die Landungsbrücken, erreichen. 

Sprichwörtlich kann eine Sache ausufern, wenn Grenzen überschritten werden. 

So hat ein Ufer immer etwas Begrenzendes, einen Halt, eine Sehnsucht in sich.


Der alte Johann 

Die Herbstsonne schien auf Johann und sein altes Häuschen am hohen linken Saaleufer. Es war ein altes Bauernhaus mit  mehreren Stallgebäuden mit knorrigen Bäumen davor und einem Katzenkopfhof.
Johann saß auf einer Bank vor seinem Haus, hatte die Beine übereinander geschlagen und zog an seiner Tabakpfeife. Eine schwarz-weiße Katze lag zusammengerollt neben ihm auf der Bank. 

Mit dem Bus waren wir bis zu den Feengrotten gefahren, waren die Straße hoch gelaufen und standen nun vor Johann.
Er freute sich, wenn jemand bei ihm reinschaute. Denn Johann hatte Schätze in seinem Haus, uralte Musikautomaten, Plattenspieler und Spieluhren. 

Gleich wenn man den Flur betrat, war man mittendrin in seinem Museum. Dazwischen wohnte er. In dem Haus hatte er alle Zimmer mit Musikschränken, einem Orchestrion vom Jahrmarkt und elektrischen Klavieren, die nach Lochkartenmusik spielten, vollgebaut. 

Seit seine Mutter tot war, hatte er auch ihre Stuben mit seinen Sammlerstücken ausgestaltet. 

Das Glanzstück in seiner Sammlung war ein Orchestrion mit Pauken, Zimbeln und Orgelpfeifen. Es bestand aus feinstem hochpoliertem Holz mit mehreren Aufbauten und hatte als Abschluss eine Glocke.

Sah man genauer hin, fand man heraus, es waren Geigen, die zu einer Glocke zusammengebaut worden waren. Mit einer Handkurbel wurde das Gerät in Gang gesetzt und wie von Geisterhand strichen Bögen über die Saiten.
Ein ganzes Orchester erklang. 

Johann, nun selbst uralt mit einem weißen Rauschebart, erzählte, wie er zu den ersten Stücken seiner Sammlung gekommen ist. Im Land ist er herumgefahren, war bei Haushaltsauflösungen und Möbelauktionen dabei, hatte sich auf Inserate gemeldet, hatte manches Stück aus Gaststätten gerettet, stöberte auf manchem Dachboden herum und sogar auf dem Müllberg.
Sein Ehrgeiz war es, dass alle Automaten funktionierten. Er hat sie alle repariert. 

Als seine Mutter noch lebte hatte sie oft geklagt: Junge, was bringst du denn alles an? Duldete aber, dass er nach und nach alle Wände und Ecken vollstellte. 

Johann zeigte seine Schätze mit einer Freude und Begeisterung, dass seine Besucher davon angesteckt wurden. Man fand sich in ein früheres Jahrhundert versetzt. 

Auf einem vorsintflutlichen Küchenherd mit glühenden Ofenringen stand ein Pfeifkessel mit kochendem Wasser, mit dem er seinen Gästen einen Tee aufbrühte.
Während dieser getrunken wurde, saß Johann auf der Holzkiste neben dem Herd, damit er die Stühle zum Sitzen anbieten konnte. 

Und Johann konnte erzählen: Mit einem Fuhrwerk hat er die Monstren herangefahren. Helfer hatte er immer, die ihm beim Abladen zur Hand gingen. 

So hatte er sich im Laufe der Jahre ein hauseigenes Museum geschaffen, hat sein ganzes Geld dafür ausgegeben und hatte nun seine helle Freude an seiner Raritätensammlung. 

Auf unsere Bitte hin führte er uns ein Scheibengrammophon mit Musikwalzen und zusammengefalteten Lochkarten vor, das wie ein Schmuckstück zwischen seinen zwei Wohnzimmerfenstern stand, zog Spielautomaten im Hochglanzgehäuse auf und zeigte jede Menge kleinerer Spieluhren. Jedes Teil hatte seine Geschichte, die Johann kannte. 

Wenn Johann ganz gut drauf war, spielte er zur mechanischen Musik selbst auf seiner Geige, ohne Noten, mit Herz und Seele und vollem Körpereinsatz.
Sagte jemand zu ihm: Mensch, Johann, du kannst aber gut Geige spielen, dann war er nicht zu bremsen.
Aber Geld nahm er für seine Vorführungen nicht an, die Freude der Leute war  ihm Belohnung genug. 

Auf die Frage, ob er noch Tiere auf seinem Bauernhof hat, antwortete er: Ich brauche keine Schweine mehr, meine Welt ist die Musik. Was man ihm auch sofort glaubte. 

Oft kamen Kinder aus der Umgebung zu ihm und wollten in sein Museum. Da maulte er zuerst ein bisschen: Was wollt ihr denn nur immer hier? Sagten sie aber: Ach, Johann, du hast so schöne Musik, dann ließ er alles stehen und liegen und setzte auf ihren Wunsch seine Automaten in Gang.
Er hatte immer begeisterte Zuhörer, der liebenswerte, gütige, alte Johann. 

Johann hat zu Lebzeiten ganze Arbeit geleistet und wertvolle alte Musikautomaten zusammengetragen, repariert und der Nachwelt erhalten. Gut gemacht, Johann! 

 

Der alte Stein und das Wolkenmädchen 

Auf der grünen Insel Kischi im Norden Russlands lebte der Steinälteste.
Viele Jahrtausende war er alt und war bei einer Sturmflut an den Strand gespült worden. Jahr für Jahr kamen die Inselkinder dorthin und liefen um den alten Stein herum. Da freute er sich sehr, Kinderlachen zu hören und sein altes Herz klopfte stark und laut, denn er liebte Kinder sehr.
Aber mit der Zeit, als aus den Kindern junge Erwachsene geworden waren, bekam er immer weniger Besuch. Das schmerzte den alten Stein sehr und er wünschte sich die alten Zeiten zurück. 

Eines Tages setzte sich der Steingeist, der im nahen Geröllfeld wohnte, auf den Stein um auszuruhen. Da klagte ihm der Steinälteste seinen Kummer und fragte ihn, ob er nicht wüsste, wie man wieder die Kinder der Insel an den Strand locken könne. Aber der Steingeist schüttelte seinen grauen Bart und wusste auch keinen Rat. 

„Frage doch mal den Wasserheiligen Jodukus, der kommt in der Welt herum und hört und weiß viel“, riet er ihm.
„Das will ich tun“ versprach der Steinälteste.
Zu Jodukus kamen die Bauern der Insel, wenn ihre Stute ein Fohlen bekommen hatte. Dann hob er das Neugeborene auf seine starken Arme und hielt es mit den Beinen zum Himmel. Dabei sprach er die Worte:
„Ich hebe dich von der Erde hoch, weil das Wasser stärker ist als du, merke dir das!“
Dann stellte er es wieder auf die Füße und es war in seinem Schutz aufgenommen. 

Der Wasserheilige sprach zum Steinältesten:
„Lass doch die Kinder beim nächsten Besuch von deinem Bauch herunterrutschen. Das wird ihnen gefallen und sie werden wiederkommen, um dich zu besuchen.“ 

Der alte Stein bedankte sich für den guten Rat und tat wie ihm geraten wurde.
Schnell hatte sich die Neuigkeit bei den Inselkindern herumgesprochen. Sie kamen in Scharen, kletterten auf dem Stein herum und rutschten an den Seiten herunter, so dass er mit der Zeit richtig glatt aussah. Beim Herunterrutschen dachten sie sich einen Wunsch aus, der in Erfüllung gehen sollte.
Ach, wie war der alte Stein froh über das lustige Leben, das die Kinder verbreiteten. In seinem Steinherzen wurde er noch einmal richtig jung.
In einer lauen Sommernacht wünschte er sich eine junge Frau an seine Seite. Das Leben mit ihr stellte er sich wunderschön vor.
Seinen suchenden Blick schickte er in den Himmel.
Ein Sternenmädchen? Wäre das nicht eine Frau für ihn?
Nein, die wäre viel zu weit weg.
Da zogen weiße Wolken am Nachthimmel vorbei.
Ja, ein Wolkenmädchen, das wäre die richtige Frau für ihn. Die Wolken kommen doch immer wieder vorbeigezogen. 

Der alte Stein überlegte ein paar Tage, wie er um das hübsche Wolkenmädchen werben könnte. Da sah er es wieder vorbeiziehen. 

„He, Wolkenmädchen, willst du auf die Erde kommen und meine Frau werden?“ rief er ihr zu.
„Wie soll das gehen? Ich muss mit dem Wind ziehen, muss Schatten und Regen spenden. Da habe ich keine Zeit zum Heiraten.“ 

Aber der Steinälteste hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, sie zur Frau zu nehmen und fragte sie immer wieder.
Dabei machte er ihr schöne Augen und winkte ihr mit den schönsten Wiesenblumensträußen, die die Kinder liegengelassen hatten. Auch lud er sie zum Teetrinken ein, denn er hatte gehört, dass sie gern welchen trank. 

Da verliebte sich das Wolkenmädchen in den Stein und stieg aus ihrem Wolkenteppich herab, um ihn zu heiraten.
Es tanzte um ihn herum, sang und lachte mit ihm und er war glücklich wie noch nie in seinem langen Leben. 

Aber mit bösen Augen verfolgte die beiden der Kräutergeist, der in der Wiese wohnte, denn er hatte auch ein Auge auf das Wolkenmädchen geworfen.
Er wurde vor Eifersucht so böse, weil ihm der Alte zuvor gekommen war, dass er dem Mädchen nach dem Leben trachtete. 

Scheinheilig erschien er zur Hochzeit und brachte giftige Kräuter mit. Daraus sollte sich das Wolkenmädchen einen Tee kochen. Er hatte erfahren, dass es so gerne Tee trank und sogleich brühte es sich eine Kanne auf und trank davon. 

Kaum hatte es aber von dem Tee getrunken, fiel es wie tot auf den alten Stein, der sehr erschrocken war. Da half kein Rufen und Schütteln, kein Händchenhalten und Weinen. Und fast wäre das Wolkenmädchen gestorben. 

In seiner Not rief der Steinälteste den Wind:
„Wind, lieber Wind, hilf meiner Frau wieder auf die Beine zu kommen, ich flehe dich an!“ 

„Das kann ich nicht“ pustete der Wind. „Ich muss fliegen, immer weiter und weiter.“
Und weg war er. 

Da rief der alte den Stein den Mond zu Hilfe:
„Mond, guter Mond, du leuchtest in der Nacht und weißt bestimmt einen Rat. Hilf meiner Frau, wieder gesund zu werden!“
Aber der Mond deckte sein Gesicht mit einer Wolke zu und antwortete nicht einmal. 

Da rief der Stein die Sonne:
„Sonne, Mutter Sonne, du scheinst in jeden Winkel dieser Erde, leuchte meiner kranken Frau ins Herz, damit sie wieder gesund wird.“ 

Die gute Sonne hatte Mitleid mit dem Alten in seinem Jammer und sprach zu ihm:
„Ich will deine Frau wieder gesund machen, aber du musst drei Rätsel lösen. Kannst du sie nicht lösen, muss sie sterben. 

„Ich muss es versuchen“ rief da der alte Stein. „Stelle mir deine Fragen!“ 

Die Sonne überlegte eine Weile und sprach dann:
„Höre das erste Rätsel: Wer hat Steine auf seinem Kopf und ist doch so leicht wie eine Feder?“
Der Steinälteste dachte nach und rief nach kurzer Zeit:
„Das ist der Steingeist, der im Geröllfeld wohnt.“ 

„Du hast das erste Rätsel gelöst. Nun höre das zweite:
Es ist jung und streckt die Beine in den Himmel?“ 

Wieder überlegte der Stein nur kurz und antwortete:
„Das sind die Fohlen, die der Wasserheilige Jodokus nach ihrer Geburt in den Himmel hält.“ 

„Du hast auch das zweite Rätsel gelöst. Wenn du das dritte aber nicht lösen kannst, so muss deine junge Frau sterben.“ 

Nun stellte die Sonne das dritte Rätsel, das so schwer war, dass der alte Stein es nicht lösen konnte.
„Was ist so glatt und blank wie eine Glasscherbe und ist doch so schwer, dass es nicht vom Boden aufstehen kann?“ 

Da wusste der Alte keine Antwort. Er grübelte und grübelte über die Frage der Sonne nach. Er fragte die Vögel, die vorbei flogen, die Wiesenblumen, die um ihn herum wuchsen und den Sommerregen. Keiner konnte ihm eine Antwort geben.
Da wurde der alte Stein sehr still und traurig.
Er wollte schon vor Kummer vergehen.
Da kamen die Inselkinder wieder einmal bei ihm vorbei. Sie lachten und scherzten, kletterten und rutschten auf ihm herum, bis ein kleines Mädchen mit einer lustigen Stupsnase und drei Sommersprossen zu ihm sagte: 

„Du alter Stein, wer hat dich so glatt und blank geschliffen wie eine Glasscherbe? Und obwohl du so groß und stark bist, kommst du nicht von der Stelle?“ 

Da hätte der Stein, wenn er es gekonnt hätte, fast einen freudigen Hüpfer gemacht. Das war die Lösung.
Aus Leibeskräften rief er nach der Sonne, die gerade ihr Mittagsschläfchen hielt: 

„Mutter Sonne, Mutter Sonne, wach auf, jetzt weiß ich die Antwort auf das dritte Rätsel: Das bin ich selber! Ich bin so blank wie eine Glasscherbe und doch so schwer, dass ich nicht vom Boden aufstehen kann!“ 

„Du hast Glück gehabt, dass du die Lösung gefunden hast, denn morgen wäre die Frist abgelaufen und deine junge Frau hätte sterben müssen.“ 

Da leuchtete die gute Sonne der kranken Wolkenfrau tief ins Herz hinein und sie konnte wieder aufstehen und mit dem Wind um die Erde ziehen.
Aber jedes Mal, wenn sie bei ihrem Mann, dem Steinältesten vorbei kam, tanzte sie vor Glück um ihn herum, trank eine Tasse guten Kräutertee mit ihm und zog weiter.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. 

Der böse Kräutergeist aber knirschte mit den Zähnen und zog, ohne sich noch einmal umzudrehen in ein anderes Land.                                              

  

Der King of Pop 

Spätere Generationen werden fragen:
Wer war denn Michael Jackson? Eine Legende, eine Ikone der Pop-Musik, ein Gigant der Musikbranche?
Wir haben ihn erlebt. Ich habe mich über den kleinen Mann mit der Kinderstimme gewundert. Angefangen hat alles mit den Jackson Five, den fünf Brüdern, die zusammen auf der Bühne standen und Musik machten, gemanagt von einem strengen Vater.
Schon mit 13 Jahren löste sich Michael von den Brüdern, trat allein auf, sang, tanzte und zog mit seiner Pop-Musik um die Welt. Er zog viele in seinen Bann, schockierte durch seine Aufmachung und seine teilweise obszönen Bewegungen. 

Täglich übte und tanzte er mehrere Stunden, um zu solcher Perfektion zu kommen. Viele Jugendliche traten als Double auf. 

Aber er bedauerte stets, dass er der Musik seine Kindheit geopfert hat.
Auf der Naverland-Ranch schuf er sich einen privaten Freizeitpark, umgab sich gern mit Kindern,  holte seine Kindheit als Erwachsener nach.
Sicher war er mit den meistverkauften Tonträgern unermesslich reich für unsere Begriffe, war Sponsor vieler Wohltätigkeitsvereine. Trotzdem war er am Rand des Ruins, geldlich und gesundheitlich. Schulden soll er gehabt haben, vielleicht auch schlechte Berater.
Wenn er auftrat, kreischten die jungen Zuschauer und flippten aus, nirgends auf der Welt war er sicher, stets von Bodygards umgeben, gejagt, gehetzt, verfolgt. Seine Fans belagerten die Hotels und Arenen, wenn ein Auftritt geplant war.
Zwei Ehen wurden geschieden, sicher war kein leichtes Auskommen mit ihm.
Drei Kinder lebten bei ihm, liebten ihn, auch wenn er das Jüngste mal kurz aus dem Hotelfenster hielt.
Er blieb in seinem Leben und Auftreten fast schüchtern, ein großes Kind, obwohl er 50 Jahre alt wurde.
Mit seinem Aussehen muss Jackson nie zufrieden gewesen sein. Sein hübsches Kindergesicht zeigte nach den vielen Gesichtsoperationen, Nasenkorrekturen und dem Bleichen seiner braunen Haut kaum noch Ähnlichkeiten.
Seine krausen Haare ließ er chemisch glätten, hatte Strähnen  ins Gesicht gezogen, versteckte sich unter einem breitkrempigen Hut, einer Sonnenbrille und einem medizinischen Mundschutz. Für uns ungewöhnlich!
Auch seine Kinder maskierte er. Sicher wollte er sie vor Paparazzis schützen. Zu seiner Beerdigung sah man erstmals ihre Gesichter.
Die Trauerfeier erlebten Millionen Menschen vor den Bildschirmen und Tausende im Staples-Center.
Seine Musik füllt auch noch nach seinem Tod die Kassen.
Im Show-Geschäft war er einmalig, unerreichbar, ein Phänomen, ein großer, kleiner Mann, der seinem zarten Körper viel zu viel zumutete und von Schmerztabletten und Narkosemitteln lebte, um schlafen zu können.
Mir hat er immer irgendwie Leid getan, nie konnte er frei leben, stets saßen ihm außer den Paparazzis auch Verleumder im Nacken, die er mit seinen Millionen zum Schweigen brachte. 

Trotzdem ist die Welt froh, dass sie ihn hatte.
Er wird in die Musikgeschichte eingehen.                                 

 

Der Krug geht solange zu Wasser …. 

Die Tür vom Lehrerzimmer flog auf. Wolfgang W., der Sportlehrer, stürmte herein, rannte zur Stundentafel der Lehrer, verfolgte mit dem Zeigefinger den Tag, die Stunde, bis hin zur Pausenaufsicht.
„Wer hatte gerade Aufsicht? Wie konnte so was passieren?“ 

„Was?“
Die Lehrer, die sich zur Pause im Lehrerzimmer aufhielten, wollten wissen was los ist. 

„Da hat doch der stille Weidemann aus der 5 b eben auf dem Schulhof den dicken Mattuschek aus der 10 a auf den Rücken gelegt.“
Das war eine Aufregung!

Fräulein Zeisig, die Klassenlehrerin der 5 b wusste, dass der Weidemann schon länger von dem Mattuschek  gepiesackt wurde. Sie hatte ihn deshalb sogar schon zur Aussprache ins Lehrerzimmer bestellt. Falls es nichts nützte, hatte sie sich vorgenommen, mit den Eltern des älteren Schülers zu sprechen.
Nun war ihr dieser Vorfall auf dem Schulhof zuvor gekommen. 

Nach Schulschluss verabschiedete sie ihre Schüler bis auf Mario Weidemann und wollte von ihm wissen, wie es zu der Auseinandersetzung gekommen war.
Mario, zurückhaltend wie immer, erzählte nur zögernd: „Ich hatte ihn gewarnt, ich kann Judo. Aber wir sollen es nicht ohne Grund anwenden.
Sonst werden wir vom Training ausgeschlossen. Das heute war eine Ausnahme, es war Notwehr.“
Und Mario schilderte Fräulein Zeisig in seiner ruhigen Art, wie Mattuschek ihm immer wieder aufgelauert, ihm die Mütze vom Kopf gerissen und in den Dreck geworfen und ihm ein Bein gestellt hatte. Heute wollte er sogar Geld von ihm haben. 

„Ich habe es ihm nicht gegeben. Meine Mutter ist Hartz IV-Empfängerin. Bei dem Gerangel hat er meinen Anorak zerrissen, da habe ich Judogriffe angewandt. Hoffentlich merkt er sich das!“ 

Und ob Mattuschek es sich merkte!  Er machte einen Bogen um den kleineren Mario, vermied jedes Zusammentreffen und ging ihm aus dem Weg, denn seine 10 a hatte nicht ohne Schadenfreude zugesehen, wie David Goliath besiegte. 

Leider ist es heute nicht immer so, dass die Schwächeren sich so wehrhaft verteidigen können. Man muss nur wissen wie! 


Der Kulturbanause 

Eines Tages brachte uns die Christel von der Post einen Gewinn ins Haus, zwei Theaterkarten.
Mit Schlips und Absatz saßen wir im Theater und lauschten den Klängen der Ouvertüre der Märchenoper " Hänsel und Gretel" von Humperdinck.
Der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf die Bühne: Ein Doppelstockbett mit Steppdecken und bunter Bettwäsche, ein Kleiderschrank mit geschliffenen Glastüren, ein Ofen mit einer Ofenröhre. Der Vater stand mit einem orangefarbenen Bademantel auf der Leiter und hing Stoffpuppen auf. Die Mutter im hautengen, eleganten Reisekostüm und hochhackigen Lederstiefeln lief geschäftig von einer Seite auf die andere.
Hänsel und Gretel mit bunten Perücken und ebensolcher Kleidung sahen mehr wie Pippi Langstrumpf aus als die Kinder des armen Besenbinders. Sie warfen das Bettzeug und die Kleidungsstücke aus dem Schrank auf die Bühne, bevor sie sangen: Brüderchen komm tanz mit mir! 

Nach wenigen Minuten sah die Bühne wie ein Schlachtfeld aus. Zwischen Decken, Pullovern und Hosen musste es dann passieren: Hänsel blieb während eines Hopsers in den Sachen hängen, zerrte sich eine Sehne am Fuß und konnte nicht mehr aufstehen. 

Der Intendant trat händeringend vor das sprachlose Publikum und die Vorstellung wurde abgebrochen. Der Notarzt kam und nahm Hänsel zum Röntgen mit ins Krankenhaus.
Nach ca. 30 Minuten war unser Theaterabend zu Ende.
Die Frau an der Kasse gab uns unsere Freikarten zurück mit einem weiteren Gültigkeitsvermerk und wir fuhren heimwärts. 

Zu Hause studierten wir das Programm für den Monat November, um uns für einen zweiten Theaterbesuch anzumelden.
"Fidelio" war für den 20. November angekündigt. 

Wir - fein gemacht - saßen also am besagten Tag wieder im Theater, voller Vorfreude auf drei Leonore-Ouvertüren, bekannte Arien und auf den Gefangenenchor "Oh welche Lust in freier Luft zu atmen". 

Der Vorhang ging auf. Vom Duett der Marzelline und ihrem Verehrer Jaquino verstand man kein einziges Wort und für die Lautstärke des Orchesters hätte ich mir eine Fernbedienung gewünscht. 

Dann trat Rocco, der Kerkermeister, auf und zu dritt sangen sie nun um die Wette. 

Als Fidelio verkleidet kam Eleonore dazu, um nun als Vierte in den Wechselgesang einzustimmen.
Hätten wir vorher nicht im Opernführer und im Programm gelesen, hätten wir die Handlung überhaupt nicht verstanden und die wunderschöne Musik Beethovens dröhnte uns in der Lautstärke von Presslufthämmern in die Ohren. 

Ein Überraschungseffekt war, als im Laufe der Handlung auf einem fahrbaren Gestell die Gefangenen in  einheitlich orangenfarbenen Overalls und sehr an die Greifswalder Müllabfuhr erinnernden Arbeitskleidung auf die vollkommen leere Bühne gefahren wurden. 

Der Text: Kein Wort mehr, man kann uns hören, hätte aus der Tagesschau sein können, denn der Abhörskandal flimmert seit Wochen über die LCD-Bildschirme. 

Als Don Pizarro auftrat, um die Gefangenen wütend in die Zellen zurückzuweisen, bekamen wir einen solchen Schreck, dass ich dachte, mein Herzschlag setzt aus.
Durch die Seitentüren im 1. Rang, wo wir unseren Platz hatten, drangen mit Stiefelschlag, Knallen und Getöse Uniformierte mit Maschinengewehren ein und zielten auf die Menge. 

Hatte man nicht in Tschetschenien schon einmal ein Theater überfallen und die Akteure und Zuschauer erschossen oder mit Gas vergiftet? Mir schwante Schreckliches!
Das Publikum saß wie gelähmt auf seinen Plätzen. 

Spätestens an dieser Stelle wäre ich gern nach Hause gegangen. 

Nachdem sich der Überfall als Handlung des Stückes herausstellte und offensichtlich harmlos sein sollte, näherte sich die Oper der Szene, wo Fidelio - nun wie Rocco und Marzelline - in Securite-Jacke in den Kerker steigt zu Florestan, ihrem unschuldigen Mann, um ihn zu befreien. Er kniete mit Anzughose, hellem Hemd, einer Weste und blankgeputzten schwarzen Lederschuhen in einem Kranz aus roten Glühbirnen und sang seine Arie. 

Als Florestan zu Boden stürzte und hart mit dem Kopf aufschlug, hatten wir die leise Ahnung, dass auch diese Vorstellung mit dem Besuch des Notarztes endete.
Aber entgegen unserer Befürchtungen ging es weiter. 

An der Garderobe überraschte mich mein Mann mit der Bemerkung: Wenn Florestan nicht vorher zu Tode gekommen war, hätte er spätestens dann den Geist aufgeben müssen, als Fidelio ihm derart laut ins Ohr "gesungen" hat. Aber sicher hatte dieser ein durchtrainiertes Trommelfell. 

Jedenfalls ist mein Bedarf an Theater vorerst gedeckt.
Ich bin eben ein Kulturbanause.

  

Der Pappenkünstler 

Pappenkünstler? Noch nie gehört! 

Bring` Pappen mit! ruft er seiner Frau hinterher.
Der Pappenkünstler aus Annaberg-Buchholz malt auf fettige Kuchenpappen mit Öl- oder Wasserfarben. Beim Bäcker kauft er Schwarzwälder-Kirschtorte, Heidelbeer- Schmand- oder Trüffelkuchen. Der Kuchen wird von der Familie verspeist. Die Kuchenstückchen hinterlassen auf den Papptellern Fettflecke, Krümel, Farben. Diese übermalt er mit seinen Farben. Die Fettflecke nehmen keine Farbe an, bleiben weiß. Er arbeitet mit den unterschiedlichen Materialien Gesichter, Tiere, Akte heraus, rahmt sie ein, stellt sie aus. 

Er sagt von sich selbst: Ich bin ein Fettfleck-Künstler.
Leider hat er bis zum heutigen Tag erst drei seiner Kunstwerke verkauft. 

 

Der Turm zu Babel 

Das höchste Bauwerk der Alten Welt soll etwa 80 bis 90 Meter hoch gewesen sein. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Archäologen, den Turm in zwanzigjähriger Arbeit zu rekonstruieren. Aber von der einstigen Königsstadt mit dem Turm, an Glanz, Pracht, Macht und Größe unübertroffen, ist nur noch ein mächtiger Buckel zu sehen. Ganz haben ihn die Perser von 2500 Jahren nicht zerstören können, aber Ziegelräuber taten ein Übriges. 

Die kleine Arabersiedlung Babil bewahrt in ihrem Namen Erinnerungen an die stolze Stadt auf. Durch Dokumente von unschätzbarem Wert ist es der Nachwelt möglich gemacht worden, sich ein genaues Bild der höchsten Blüteperiode von Babel zu machen. 

Ein neuer Turm wird zurzeit in Dubai gebaut. Er soll die unvorstellbare Höhe von 700 m betragen. Das aufstrebende Dubai verblüfft die Welt mit Superlativen.
Hotels mit 1001-Nacht-Atmosphäre entstanden und künstliche Inseln in Form von Palmenwedeln. 

Wo einst Karawanen zwischen dem vorderen und hinteren Orient Durchzugsgebiete hatten, stehen längst keine Lehmhütten mehr. Das Erdöl und der dadurch entstandene Reichtum der Scheichs machen das kleine Land zum Anziehungspunkt der Reichsten der Erde. 

160 Stockwerke soll der Dubai-Turm haben, 56 Aufzüge, mehrere Schwimmbäder, eine Aussichtsplattform im 124. Stockwerk, Hotelzimmer in den „unteren Etagen“, und das größte Einkaufszentrum der Welt soll 2010 fertig sein. 

Man kann nur für die Menschen, die den Giganten bewohnen sollen, hoffen, dass sie nicht dasselbe Schicksal ereilt wie einst die Bewohner des Turms zu Babel, denn Prahlsucht und Spekulationswahn hat noch nie Gutes gebracht.


Der Zauber der Klänge 

Lassen Sie sich doch mal mit der Poesie der Töne ein, denn wer fühlen will, muss hören.
Ich nehme Sie mit ins Theater. Bitte, nehmen Sie Platz! Klappen Sie den roten Samtsitz herunter und lehnen sich an. Fein angezogen erleben wir das Stimmengewirr um uns herum. Dann ertönt dreimal das Klingelzeichen. Das Konzert beginnt. Lehnen Sie sich zurück und schließen Sie die Augen. R u h e ! 

Jetzt öffnen Sie sie wieder. In der Mitte der dunklen Bühne steht ein schwarzer Flügel. Davor sitzt der Pianist mit einem weißen Hemd und einer knallroten Weste. Er wird von einem Scheinwerfer beleuchtet, bevor die Bühne erhellt wird. Im Kreis um ihn herum sitzen Akteure, die zuerst leise, dann lauter anfangen mit ihren Instrumenten zu klopfen und zu hämmern. Immer mehr „Werkzeuge“ steigen in dieses Geräusch ein, bis die Pauke anfängt, im Takt dazu zu schlagen.
Man bekommt einen Eindruck, als würde man sich im Eisenwalzwerk von Adolph Menzel befinden.
Noch mehr Instrumente setzen in diesen Rhythmus ein, verflechten sich hörbar miteinander.
Auf einmal ist Ruhe. Eine Stille, die man fast körperlich empfindet. 

Dann setzt der Pianist am Flügel ein, spielt Melodien, die dem Ohr schmeicheln und einen Gegensatz zu dem eben Gehörten bilden. Geigen ertönen, Cellis, kommen leise dazu. Die Töne versickern nach einer ganzen Weile, laufen leise aus.
Der Beifall setzt erst zaghaft ein, dann rast das Publikum. Es hat gefallen. 

Der Dirigent steht wie ein Zauberer vor seinem Orchester, er ist ein Magier der Töne. Seine ganzen Emotionen legt er ins Dirigieren. Man fühlt seine Bereitschaft,  sich auf diese Musik einzulassen.
Er verbeugt sich, legt seine rechte Hand aufs Herz. 

Vorhang
Ein Sommerwald.  – P a u s e -   Vogelstimmen. Ein Häher ruft.  P a u s e   Ganz schwach – weit entfernt – ein Kuckuck.  Dann ist Ruhe.
Es raschelt im Laub, ein Igel. Ein Tier, das an einem Baum hoch läuft und an der Rinde kratzt. Jetzt hört man den Wind in den hohen Bäumen rauschen. Ein dürrer Ast bricht, ein Specht klopft. Regentropfen kommen dazu.  P a u s e
Es ist einfach nur schön, zuzuhören. 

Vorhang
Eine Straße in Barcelona. Kugelbäume stehen zwischen Fuß- und Fahrweg. Die Straße ist in abendliches Licht gehüllt. Die Bäume sind nur noch Schatten. Es ist still. Jetzt ertönt eine Glocke, vielleicht eine Turmuhr, ein Auto knattert vorbei, dazwischen schwingt ein großer Ton wie von einem Schlagwerk einer Uhr. Auf einmal viele Stimmen, die Stadt lebt. 

                        S c h ö n ! Ich höre und staune! 

 

Die Drachenhöhle auf Mallorca 

Die Sage erzählt, dass sich in der Höhle von Porto Cristo Bacchantinnen, Satyre, Faune und Hexen in den steinernen Lustgemächern zu Orgien versammelt haben.  1896 erforschten französische und deutsche Höhlenforscher das dunkle Loch genauer. So wurden die Tropfsteinhöhlen entzaubert und keiner glaubte mehr an die höllischen
Ungeheuer. 

Jahrhundertelang war der Hafen von Porto Cristo Unterschlupf von Freibeutern und Piraten, weil er so versteckt liegt.
Heute dauert die Führung durch die beleuchteten Höhlen fast zwei Stunden.
Am Martelsee, einer der größten unterirdischen Seen der Welt, ist eine Pause für die Besucher vorgesehen. Man sitzt auf terrassenartig angelegten Sitzreihen und harrt der Dinge, die da kommen sollen. – Langsam wird nach und nach das Licht ausgeschaltet. Nun ist es ganz dunkel. Wie viel Minuten? Was geht einem im Dunkeln nicht alles durch den Kopf. – Es ist absolut still. Man weiß, vor mir liegt der See, ringsherum ist der Laufsteg für die Besucher, rechts und links und oben und unten sind die Tropfsteine und wir sitzen hier tief unter dem Berg.
Da ertönt wie aus weiter Ferne eine Geige, ganz zart und leise erklingt die Baccarole. Die Musik kommt langsam näher. Jetzt sehen wir einen Lichtschein, ein Boot, das ringsherum mit kleinen Lämpchen geschmückt ist. Auf dem Boot drei Musiker: ein Klavierspieler und zwei Geiger. Das Boot kommt näher, kreist auf dem See, bis das Musikstück verklungen ist. Im Zuschauerraum ist es so still, man würde die besagte Stecknadel fallen hören. Dann ist Ruhe. Bevor der Beifall einsetzt, sind alle Zuhörer wie gebannt von der Musik in diesem unterirdischen Reich.
Man kann sich nur schwer aus der Verzauberung lösen. 

Da die Höhle fast ebenerdig liegt, sind sommers wie winters + 20 Grad darin. Das ist sehr ungewöhnlich für eine Höhle. Die Feuchtigkeit kommt dazu. Unaufhörlich tropft und rieselt es von der Decke, von den Wänden. Figuren wie ein Drache, ein Mönch mit Kutte und Kapuze, Kristallleuchter, Märchenschlösser und ein ganzer Saal hängender Tropfsteine begegnen uns auf unserem Rundgang. Der See wird in verschiedenen Farben vom Grund her beleuchtet. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. 

Hatten wir noch nicht genug Erlebnisse und Eindrücke?
Auf der Rückfahrt stoppt der Bus in Manacor. Hier besichtigen wir die Perlenfabrik, wo die weltweit bekannten Mallorca-Perlen verarbeitet werden.
Im Verkaufsraum erwerben wir eine Perle zum Andenken. Sie soll uns Glück bringen und das Geld soll nie alle werden.
Ich habe sie noch diese  Perle und das Geld ist auch noch vorhanden.   
 

Die klugen Pflanzen 

Ein heißer trockner Sommertag ging zu Ende. Noch immer hatte es nicht geregnet.
Die Tabakpflanze Amanda klagte ihrer Freundin auf dem Nachbarfeld Beate Körner-Mais ihre Not.
"Sehen Sie uns doch an, liebe Freundin, in anderen Jahren waren wir mindestens 20 cm größer, aber dieses Jahr kommen wir nicht von der Stelle." 

"Uns geht es genau so, liebe Amanda. Glauben Sie mir, sonst waren meine Körner längst dick und prall. Aber bei dieser Trockenheit vertrocknen uns sogar die Blätter." 

"Und dann die gefräßigen Kerle, die uns arme Pflanzen zu allem Unglück noch überfallen. Man müsste es dem Pflanzenschutz-Dezernat melden.
Jeden Tag kommen Grashüpfer, Raupen und andere Insekten und bedienen sich an den so sorgsam gehüteten Blättern.
Aber ich weiß mich zu wehren und habe es auch schon meinen Schwestern mitgeteilt. Ich sende ein elektrisches Signal an meine Wurzeln und sie schicken Nikotin in meine Blätter. Ganz blass und gelähmt lagen die Fressfeinde am Boden.
Den Geruch können sie nämlich nicht vertragen." 

"Da haben Sie aber Glück, verehrte Amanda." 

"Ja, aber die Gefahr ist damit noch nicht vorüber" erzählte die Tabakpflanze weiter. " Kaum sind die ersten Angreifer weg, kommt doch dieser widerliche Kerl, dieser Tabakschwärmer, eine hässliche Motte, und legt mindestens 1000 Eier unter unsere zarten Blätter. Und aus jedem Ei wird eine gefräßige Raupe, die gegen unser Nikotin immun ist.
Was soll nur noch aus uns werden"  jammerte Amanda weiter. 

"Ach, hören Sie bloß auf, liebe Amanda.
Neulich habe ich von einer Verwandten gehört, dass sie sogar Versuche mit uns Pflanzen anstellen. Eine empfindliche Mimose haben sie, stellen Sie sich das vor, sogar narkotisiert bis sie ganz erstarrt war. Die Ärmste! Wir Pflanzen haben doch keine Nerven! Das ist doch die reinste Pflanzenquälerei. Finden Sie das nicht auch, meine Verehrteste?" 

Amanda schüttelte vor Grauen ihre Blätter. "Pfui, das ist doch nicht möglich, dass die Menschen uns so etwas antun." 

Während sich die beiden Pflanzen so von Nachbarfeld zu Nachbarfeld unterhielten, hatten sich unzählige Tabakschwärmer still und heimlich auf den noch jungen Pflanzen nieder gelassen und legten ihre Eier ab. 

"Alarm! Alarm!" Tausende Pflanzenstimmen riefen um Hilfe. Doch wer sollte ihnen jetzt helfen?
Vor Schreck stoppten die Pflanzen ihre Nikotinproduktion und stießen einen Blätterduft aus. Das war ihr Hilfeschrei.

Und wer war der Empfänger dieses Duftalarms?
Unscheinbare Duftwanzen marschierten in Reih` und Glied und im Gleichschritt heran und verteilten sich im ganzen Pflanzenwald.
Nun fand ein Minidrama mit Verlierern und Gewinnern auf dem Feld statt. Die Duftwanzen griffen die Eier an. fraßen sie und labten sich an ihrer Leibspeise. 

Kaum hatten sich die Tabakpflanzen von dieser Attacke erholt, setzte sich die Tragödie im Maisfeld fort.
Nagende Käfer und Blattschneideameisen waren im Anmarsch. 

Mit großer Sorge sah Amanda die Scharen von Schädlingen, die sich dem Nachbarfeld näherten. Sie sah auch, wie ihre Freundin Beate Körner-Mais einer Ohnmacht nahe war. Ganz blass war sie schon um die Nase und ließ den Kopf hängen. 

Amanda nahm alle ihren Mut zusammen und schrie aus Leibeskräften, so dass sich ihre Blätter fast kräuselten:
"Frau Körner-Mais, machen Sie jetzt nicht schlapp. Sondern Sie doch jetzt ein paar Nektartröpfchen ab, um die Angreifer zu vertreiben. Bei uns hilft das immer. Ein Versuch ist es doch wert. Ich kann Sie gar nicht so leiden sehen. Beeilen sie sich!" Und Amanda reckte sich vor Anstrengung und Aufregung in die Höhe. 

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Vorschlag unter den Maispflanzen:
"Nektartröpfchen bilden, sofort Nektartröpfchen bilden."
Amanda atmete erleichtert auf.
Die Verständigung hatte geklappt. Und das Wunder geschah.
Der Alarmduft lockte eine Invasion von Schlupfwespen an. Die legten ein Ei in jede Raupe und ihre Larven saugten den Raupenkörper aus. Die Maispflanzen schienen gerettet. 

Aber da lauerte schon wieder die nächste Gefahr. Eingeschleppte Maiswurzelbohrer griffen die Pflanzen  u n t e r   der Erde an.
"Wissen Sie, Frau Körner-Mais, man spricht auch in unseren Kreisen von Laborversuchen. Sträuben Sie sich nicht länger und lassen Sie es zu, dass man einige Versuche im Labor macht, um die Feinde los zu werden." So sprach Amanda.
Frau Körner-Mais wollte davon zuerst nichts wissen. Wollte ihr dieses junge Ding vom Nachbarfeld Vorschriften machen? Ihr, der alten Kulturpflanze? 

Doch am nächsten Tag wurden einige Pflanzen für die Versuchsstation abgeholt. Auch Frau Körner-Mais war dabei.
Im Labor wurden die Maiswurzelbohrer erfolgreich bekämpft, obwohl die Pflanzen sich manche Prozedur gefallen lassen mussten.
 Aber, und das war das Wichtigste, sie erholten sich wirklich wieder.
Jeden Morgen erklangen aus dem Lautsprecher Dvoraks Slawische Tänze, die den angeschlagenen Pflanzen wirklich gut taten. 

Die Tabakpflanze Amanda erfuhr durch einen Zufall von den geglückten Tests im Labor, denn zwei Landwirte unterhielten sich auf ihrem Feld von diesen Versuchen. Stolz reckte sie ihre Blüten und Blätter, denn sie war es, die den netten Nachbarn zu Hilfe gekommen war. 

 

Die Osterjungfrau 

In Osterrode im Harz, so erzählt die Sage, sah man am Ostermorgen eine weißgekleidete Jungfrau mit einem Blütenkranz im Haar durch die nebligen Wiesen gehen. Auf der Burg „Hohler Backenzahn“ soll sie gewohnt haben. 

An einem Ostersonntag stieg ein armer Leineweber in das Tal der Soese, um sein Tuch zu verkaufen, denn die Geschäfte gingen schlecht, weil die Leute hungerten und kaum das Nötigste zum Leben hatten.
Da sah er eine weiße junge Frau, die ihre Füße im Bach badete. 

„Wer bist du?“ fragte sie der Leineweber. 

„Ich will dir Glück bringen“ antwortete die Jungfrau. „Komm morgen früh auf die Burg und suche nach einer weißen Lilie“. 

Der arme Leineweber ging am nächsten Morgen auf die Burg und fand die Lilie.
Da erschien ihm wieder die weiße Jungfrau und sprach: 

„Suche nach einer Erdkuhle, die Lilie wird dir den Weg zeigen.“ 

Der Leineweber fand die Erdkuhle, die mit Gold gefüllt war. Da war seine Freude groß, denn nun hatte die Not ein Ende. Jetzt war er ein reicher Mann und konnte für Frau und Kinder Essen einkaufen.
Aber er hatte ein gutes Herz und behielt den Schatz nicht für sich allein,  verteilte das Gold unter den Webern und das Städtchen Osterrode gelangte durch fleißige Arbeit zu weiterem Reichtum. 

Ein Ritter hörte von der schönen Jungfrau und suchte sie, um sie zu schänden.
Er fand sie auch, doch sie erkannte seine Absicht, riss sich von ihm los und schaffte es, ihm zu entkommen, denn nur als Jungfrau konnte sie Gutes tun. 

Osterrode aber behielt seinen Reichtum und baute sogar eine neue Burg auf, die Eilenburg.
Noch heute stellt man in dem Ort die berühmten Kamelhaardecken her, die weit im Land bekannt wurden.
 

Die Stadt der Unter-der-Erde-Bewohner 

Man kann es kaum glauben, es gibt eine Hauptstadt der Verblichenen:    C o l m a   im Staat Kalifornien.
Die Stadt hat 15.000 Einwohner, aber 1,5 Millionen Gräber auf 17 unterschiedlichen Friedhöfen. Das sind griechische, jüdische, italienische, katholische und protestantische Ruhestätten. Auf jedem der Friedhöfe gibt es unterschiedliche Traditionen: Die Chinesen z. B. legen Geld und Essen für ihre Toten auf die Gräber,
damit sie es leichter haben dort, wo sie jetzt leben.
Die Juden bauen ein Mausoleum, die Italiener Gruften, die Franzosen und Griechen belegen die Grabstätten mit massiven Stein- oder Marmorplatten und die Protestanten und Katholiken schmücken die Grabstätten mit Pflanzen und Blumen. 

Die Stadt Colma liegt in unmittelbarer Nähe von San Franzisko. Es liegt auf der Hand, dass die Bewohner ihre Verstorbenen in der Stadt der Verblichenen bestatten. 

Angefangen hat es damit, so erzählt die Sage, dass sich die Friedhofstür von selber vor einem Mann öffnete. 

Das Motto der Stadt lautet: Schön, hier überlebt zu haben. 

Man sagt: Die Lebenden sind hier fantastisch und erst die Toten!!!

  

Die Uhr 

Der Vater hatte Geburtstag.
In der Familie war es üblich, dass einer von den Kindern den Eltern zum Geburtstag ein Ständchen auf dem Klavier brachte.
Heute war der älteste Bruder an der Reihe.
Und welches Lied eignete dich am besten für den Vater, der von Beruf Uhrmacher war? Da gab es nicht viel zu überlegen.
Die Ballade von Carl Löwe "Die Uhr". 

Da ich einige Jahre jünger war als meine Brüder, verstand ich den Text erst Jahre später.
Heute, mit 66 Jahren, fällt mir beim Kramen ein altes Liederbuch in die Hände, in dem ich blättere.
Da, ein Lied mit vielen Strophen "Die Uhr".
Mit meinem heutigen Verstand lese ich Zeile für Zeile, feiere sozusagen Wiedersehen mit den vergangenen Jahren. Was hatte dem Vater so an dem Lied gefallen?
Eigentlich ist es ein trauriges Lied, in dem die Uhr mit dem Herzen verglichen wird, das einmal stille stehen wird. 

Ich trage wo ich gehe stets eine Uhr bei mir. Na gut, der Vater war ja Uhrmacher. Was immer geschah im Leben, sie pochte den Takt dazu, manchmal zu langsam, oft zu schnell.
Aber nun kommt es:
Sie schlug am Sarge des Vaters,
sie schlug am Traualtar.
sie schlug an der Wiege des Kindes
und sie schlägt noch heut. Wer weiß wie lange? 

Wer einmal in eine mechanische Uhr hineingeschaut hat, der kann ein kleines
Wunderwerk an Präzision erkennen. Sicher geht es den Medizinstudenten oder angehenden Chirurgen genau so, wenn sie sich näher mit dem menschlichen Herzen befassen.

Aber die Zeilen:
Es ist ein großer Meister, der künstlich ihr Werk gefügt,
wenn auch ihr Gang nicht immer, dem törichten Wunsche genügt.
Ich wollte sie wäre rascher gegangen an manchem Tag,
ich wollte sie hätte manchmal verzögert den raschen Schlag.
Das trifft nun wirklich den Punkt. 

Das alte Liederbuch lege ich wieder an seinen Platz und denke, es ist doch schön, ein halbwegs gesundes Herz zu haben und der Arzt sagt nach der Untersuchung: Es ist alles in Ordnung! 

Heute hätte mein Vater sicher nicht mehr so viel Freude an seinem Beruf. 

 Ich bekam zur Kommunion meine erste Armbanduhr, die ich viele Jahre getragen habe. Heute wirft man die billige Digitaluhr einfach weg, wenn sie auch mit einer neuen Batterie nicht mehr gehen will und man kauft sich auf dem Markt in Swinemünde eine neue. 

Was immer geschieht im Leben, das Herz und die Uhr pochen stets den Takt dazu, und man kann froh und dankbar sein, wenn man auf ein langes Leben zurückschauen kann. 

Was ich erst später erfahren habe: Carl Löwe war Organist im Dom von Stettin und sein Herz ist dort beerdigt.  

 

Die Wandlung 

Im Dorf nannte man sie den Graf und die Gräfin. Sie fielen auf. Einer war hübscher als der andere.
Er trug am Sommersonntag ein weißes Oberhemd, Reithosen und Reitstiefel des Vaters und Glacéhandschuhe, obwohl er Pferde nur vom Ansehen her kannte.
Seine große schlanke Gestalt, der aufrechte Gang, die zurück gekämmten blonden Haare voll Brillantine, Dauerwellen gelockt.
Wer so durch das Dorf ging fiel nicht nur auf, über den zerrissen sich die Leute die Mäuler. Dabei war er wegen zwei linker Hände aus der Tischlerlehre geflogen, hatte den Geigenunterricht bald wieder aufgegeben, hatte alle möglichen Berufe begonnen aber nichts zu Ende gebracht.
Aber er imponierte der Damenwelt durch sein Auftreten und sein Sprücheklopfen und gefiel besonders ihr, der Gräfin. Ein hübsches Mädchen aus dem Nachbardorf.
Wenn sie Hand in Hand oder Arm in Arm mit stolz erhobenem Kopf durchs Dorf promenierten, wackelten die Gardinen hinter den Fensterscheiben. 

Ein bisschen zu hoch trugen sie den Kopf. Und die Dorfbewohner sagten:
 „Hochmut kommt vor dem Fall.“
Sie waren beide erst 21 und hatten schon drei Kinder. Niedliche Blondschöpfe, die abwechselnd von den Großmüttern betreut und versorgt wurden.
„Lass doch die Kinder. Sie sind doch so jung und wollen noch ihre Freiheit haben.“ 

Keinen Dorftanz ließen sie aus, waren nur mit sich beschäftigt. Hatten keine Augen für andere, himmelten sich ständig an. Sicher hing der Himmel für sie voller Geigen. Geld brauchten sie nicht, die Eltern kamen für alles auf. 

Da klingelte es Sonntagnachmittag bei seinen Eltern an der Wohnungstür.
Der Abschnittsbevollmächtigte des Ortes.
„Hinter Westeregeln hat sich heute ein schwerer Verkehrsunfall ereignet. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn…“
Dem Vater fiel die Zigarre aus der Hand, die Mutter mit dem Jüngsten auf dem Arm taumelte rückwärts und fiel in den Korbsessel.
„Kommen Sie doch herein! Hier auf dem Flur…“
„Wie konnte das passieren?“ Der Mutter fiel das Sprechen schwer.
„Der Graf  also Ihr Sohn hatte sich am Vormittag das neue Motorrad seines Freundes ausgeliehen, um eine Spritztour ins Nachbardorf zu machen.
Und auf der glatten Landstraße ist es dann passiert.“ 

„Aber, er hatte doch gar keine Fahrerlaubnis!“ Die Mutter konnte es nicht fassen. 

„Sie können mir glauben, es ist eine schwere Aufgabe, den Eltern solche Nachricht zu überbringen. Bitte, kommen Sie morgen früh um 9 Uhr nach Magdeburg in die Gerichtsmedizin, um Ihren Sohn zu identifizieren. Weil er keinen  Helm getragen hat, ist das Gesicht nicht mehr zu erkennen. Aber er hatte den Ausweis in der Tasche.“
Die Mutter weinte still in ihr Taschentuch. 

Was nun folgte, bewegte das ganze Dorf.
Eine junge Frau, gerade mal 21, unverheiratet, keinen Beruf, keine eigene Wohnung aber drei kleine Kinder.
Zur Beerdigung war das ganze Dorf auf den Beinen. Die einen aus Mitgefühl, die anderen aus Neugier. Aber man war solidarisch. 

„Wir haben Platz im Haus, bei uns kannst du mit deinen Kindern wohnen.“ 

„Deine Kinder kannst du in die Krippe bringen, wir haben noch Plätze frei.“ 

„Wenn du Friseuse werden willst, komm Montag früh ins Geschäft, du kannst noch einsteigen.“ 

So halfen die Nachbarn und die Eltern sowieso.
Möbel wurden gespendet, Wäsche abgegeben, Kinderkleidung gesammelt und aus der Gräfin wurde fast über Nacht eine ganz normale junge Frau, die sich viel Mühe gab.
Die Jahre vergingen. 

Da fragte doch neulich jemand.
„Was ist denn eigentlich aus der hübschen Gräfin geworden?“ 

„Tja, sie ist nun auch schon in die Jahre gekommen. Ihr gehört seit langem der Friseursalon. Und aus ihren Kindern sind tüchtige junge Leute geworden. Der Junge ist nach dem Abitur auf die Polizeischule gegangen und die beiden Mädchen studieren noch.“
Nur die blonden Haare der drei erinnern noch an den Vater, den Luftikus, den sie leider nicht kennen lernen konnten.

 

Dorfgeschichten 

Im NDR lief die Sendung "Heimatkunde" mit dem Untertitel: Kuriose Ortsnamen in Mecklenburg-Vorpommern.
Das machte mich neugierig und ich klickte im Internet diese Rubrik an.
Fein alphabetisch geordnet konnte ich nun lesen was mich interessierte. 

Da gibt es zum Beispiel einen Ort mit dem Namen Siehdichum.
Wie kam es zu diesem Namen?
Ein Gutsbesitzer aus grauer Vorzeit soll mit seinem kleinen Sohn durch die Felder geritten sein und zu ihm gesagt haben: Sieh dich um, das wird einmal alles dir gehören. 

Ein Ort bei Wittenburg heißt doch wirklich Zwölf Apostel, der mit der Anzahl der Güter seinen Namen bekam. 

Oder Nutteln? Verbirgt sich dahinter ein böses Wort?
Nein, der Name stammt von dem Begriff Nussort her. 

Aber wie ist es mit dem Dorf Fräulein Steinfort?
Wenn jemand sagt: Ich wohne in Fräulein Steinfort, ist sein Gegenüber bestimmt davon überzeugt, dass man ihn veralbern will.
Das Fräulein mit diesem Namen soll es in der 300-Seelen-Gemeinde wirklich gegeben haben. Sie soll ständig aus dem Fenster nach einem Ehemann Ausschau gehalten haben. So ist zum Ortsnamen Steinfort noch das Fräulein dazu gekommen. 

Unter manchen Bezeichnungen kann man sich gar nichts vorstellen. Jedoch Fritz Reuter lobte schon zu Lebzeiten die Gegend um Kuchelmiß. Sie wäre ein Naturparadies. 

Ortsfremde werden denken, dass Bad Sülze mit einem Lebensmittel in Verbindung gebracht werden kann. Dabei verdankt es seinen Namen den Solevorkommen, die seit über 1000 Jahren zur Salzgewinnung genutzt wurden. 

Bei Ludwigslust gibt es einen Ort Findenwirunshierein, das klingt sympathisch, einladend.
Wobei ich Wüstenfelde oder Strahlendorf eher abschreckend finde. 

Besser gefällt mir Wulkenziehn oder Groß Kelle bei Röbel, wo ein großer, tiefer See im Ortskern zu finden ist, in dem unsere fünfjährige Tochter damals beinahe ertrunken wäre. 

Aber wer möchte schon nach Mückenfang ziehen, das auf keinen Fall ein Biotop für stechfreudige Plagegeister sein soll?
Ein Glück, dass man nicht in Affendorf, Oberhäslich, Schabernack, Dümmer oder Poppeln wohnt. Da hätte man die Lacher auf seiner Seite.
Da würde ich mir doch lieber Rom, Groß Klein oder Lütten Klein aussuchen. 

So kann man kuriosen Ortsnamen auf die Spur kommen und man bekommt ihre Entstehungsgeschichte gratis mitgeliefert.

 

Ehrung mit Pfiff

Manche Leute sammeln Streichholzschachteln und Bierdeckel, ich sammle Geschichten. 

Da geht zwischen Berlin und Leipzig eine junge Frau mit einem Korb voll langstieliger roter Rosen durch den Zug.
Wer kauft denn im Zug Rosen?
Zuerst abgewandte Gesichter.
Sie spricht die Mitreisenden an und fragt: "Fahren sie zufällig bis zum Hauptbahnhof in Leipzig? Würden sie eine Rose annehmen? Mein Vater, der Lokführer, hat heute seinen letzten Arbeitstag und scheidet nach 40 unfallfreien Berufsjahren aus dem Dienst aus. Und könnten sie ihm am Hauptbahnhof eine Rose überreichen? Ich möchte ihn überraschen." 

Die Reisenden sind sofort bereit, der Vater überwältigt, als er beim Aussteigen das Grüppchen mit den Rosen in der Hand vor sich sieht.
In seinen Augen sind Tränen.
Solch einen Abschied aus dem Berufsleben hat der Leipziger Hauptbahnhof noch nicht erlebt. Den Einfall muss man erst mal haben. 

Vielleicht hat die Tochter nur nach dem alten Gebot gehandelt: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl geht auf Erden. 

Schön, dass so viele Leute spontan bereit waren, einem Unbekannten diese Freude zu machen. Auf jeden Fall war es eine Ehrung mit Pfiff.


Ein Haus steht Kopf  (in Trassenheide) 

Es steht auf dem Kopf,

ich trete ein.

Die Tür schlägt zu.

Ich laufe an der Decke.

Bin ich denn eine Fliege?

Die Couch hängt oben in der Ecke.

Der Fußboden hat 6 % Gefälle,

der Gleichgewichtssinn rebelliert auf der Stelle.

Man ist es nicht gewöhnt

die Welt auf dem Kopf zu sehen.

Wie soll das Kind in dem Himmelbett schlafen?

Das Essen würde aus den Töpfen laufen.

Und erst die Toilette,

ich wette,

das Wasser würde sich im Raum ergießen.

Aber die Idee mit dem Haus ist gut.

Der Architekt hatte Mut.

Er wusste Bescheid.

ein solches Haus passt in unsere Zeit.

 

Ein Ost-West-Gespräch 

Ein geflügeltes Wort nach der Wiedervereinigung lautete: Es soll zusammen wachsen was zusammen gehört. Aber dass das nicht so schnell gelingt, möchte ich an einem Gespräch darstellen, das ca. 10 Jahre nach der Wende stattgefunden hat
Ein Sonntagsausflug führte uns in den neugebauten Miniatur-Modellpark nach Neubrandenburg.
Nach dem Rundgang und der Besichtigung der Modelle von den Schlössern Neustrelitz, Penzlin, Dargun, Mirow und Kummerow und den Stadttoren von Neubrandenburg und Friedland setzten wir uns auf die Sonnenterrasse des kleinen Kaffees und ließen uns das Eis schmecken, während die Parkeisenbahn ihre Runden durch den Park drehte. 

Es war ein schöner Sonnentag. Die Bäume standen im vollen Laub und die Vögel sangen in den Zweigen.
Da gesellten sich zwei ältere Damen zu uns, fragten, ob sie sich zu uns an den Tisch setzen dürften.
Man kam ins Gespräch. Zuerst drehte sich das Thema um den Modellpark. Dann kamen sie auf Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen und lobten Land und Leute in den höchsten Tönen. Wir freuten uns, dass ihnen unser Land gefiel. Sie hätten sich schon viel umgeguckt, haben die Bäderarchitektur, die weißen Strände, die Seebrücken und viele Innenstädte gesehen. 

"Na ja, das hat doch alles nur die Wiedervereinigung  zustande gebracht" äußerte sich die eine Dame. Wir könnten froh sein und Gott danken, dass es so gekommen ist.
Jetzt waren sie auf ein unerschöpfliches Gesprächsthema gestoßen. Sie kamen auf das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre zu sprechen und konnten gar nicht mehr davon aufhören und dass wir das ja nun auch erleben dürfen.
Sie waren ganz davon überzeugt, dass gerade durch sie die Wende zustande gekommen sei und dass sie schon immer der Meinung waren, dass die Wiedervereinigung kommt. 

Wir waren ob dieser Redseligkeit verstummt und machten uns unsere Gedanken. Die besten Argumente fielen uns erst später ein.
Wird uns das noch ewig auf dem Tablett serviert, dass wir die Almosenempfänger des Westens sind? 10 Jahre lebten wir nun schon im vereinten Deutschland.
An diesem schönen Sonnentag war uns plötzlich die Petersilie verhagelt. Wir entschlossen, die Flucht zu ergreifen.
Bei der Verabschiedung gaben uns die beiden Damen aus Hamburg mit auf den Weg, dass wir nun auch fleißig arbeiten müssten, um unser Land zur Blüte zu bringen, so wie sie es vorgemacht haben.   

Hatten wir bis jetzt nicht genug gearbeitet? Nun standen wir kurz vor der Rente. Mein Mann hatte als junger Lehrer bis in die Nacht die Unterrichtsstunden für den nächsten Tag vorbereitet, hatte Elternbesuche und Elternversammlungen außerhalb der Arbeitszeit durchgeführt, war mit seinen Klassen jährlich mehrere Tage verreist, hatte Jugendweiheveranstaltungen und später dann Kunst- Ausstellungen zusätzlich vorbereitet meistens bis spät in die Nachtstunden hinein. Als Methodiker hatte er die Pädagogik-Studenten mit dem Unterrichtsgeschehen vertraut gemacht.
Auch ich hatte mich im Hort um die Schuljugend bemüht, hatte mit ihnen täglich die Hausaufgaben erledigt, mit leistungsschwächeren Schülern geübt und die Freizeit abwechslungsreich für sie gestaltet.
Über 40 Jahre hat jeder von uns für die Volksbildung gearbeitet, und unsere eigenen Kinder hatten wir auch zu fleißigen Menschen erzogen. 

Noch auf der Heimfahrt ärgerten wir uns über die Maßregelung von den zwei gepflegten Damen, die bestimmt nie in ihrem Leben berufstätig waren und sich vom Geld ihrer Ehemänner ein schönes Leben gemacht haben. 

Dieses Gespräch hatte uns gezeigt, dass wir noch weit von einander entfernt sind. Wir leben zwar in einem Deutschland, aber Ost und West hat seine eigene Geschichte.
Auch heute, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, sind wir noch nicht ganz zusammen gewachsen, stoßen immer wieder auf Unterschiede. Es werden wohl noch ein paar Jahrzehnte vergehen, bis man die Geschichte nicht in  "vor der Wende und nach der Wende" einteilen wird.

 

Erwartungen 

Eigentlich erwartet man immer etwas.
Man könnte doch zufrieden sein so wie es ist, aber nein – man erwartet etwas. 

Als ich ein Kind war, erwartete ich, dass ich von der Lehrerin gute Noten bekomme. Dann erwartete ich, dass das Christkind meine Mutter wieder gesund macht. Weil es das nicht tat, glaubte ich nicht mehr daran.
Später erwartete ich, dass ich mit Kusshand in einem großen Leipziger Betrieb eingestellt werde, was mir auch gelang.
Dann ging es weiter.
Ich erwartete und freute mich darauf, dass wir heirateten, weil ein Kind unterwegs war, dass wir die ersehnte Wohnungszuweisung bekommen, dass meine Kinder gesund waren, was auch nicht immer zutraf.
So ging es weiter.
Man erwartete, dass die Bestellungen für Waschmaschine, Fernseher und Auto vom Betrieb angenommen, dass der Urlaub genehmigt wurde, damit man den FDGB-Platz belegen konnte, dass man das Examen bestand und als Erzieher eingesetzt wurde und dass der Mann die Stelle als Direktor bekam. 

Kein bisschen hat man seine Erwartungen zurück geschraubt, als die Kinder ihre Zeugnisse erhielten, dass sie in der Musikschule vorspielen sollten und als der Mann an seiner Doktorarbeit schrieb. 

So sind die Jahre mit vielen kleinen und großen Erwartungen ins Land gegangen. Heute, als Ruheständler, erwartet man, dass man gesund bleibt, damit man noch schöne Reisen unternehmen kann. Man ist ja nun nicht mehr an die Ferienzeit gebunden, dass die Chorauftritte gelingen, dass die Kinder Arbeit haben und die Enkel eine Berufsausbildung bekommen. 

Man erwartet gutes Wetter, damit die Gartenparty nicht ins Wasser fällt und, und, und…
Wie unbescheiden ist man eigentlich? Erfüllt man auch die Erwartungen, die andere an uns stellen? 

In Meyers Lexikon steht nicht einmal etwas über Erwartungen, die doch solchen Stellenwert in unserem Leben einnehmen. Man hat das Wort einfach ausgelassen.
Nur im Deutschen Wörterbuch – früher sagten wir Duden – steht unter Erwartung: Ungeduld, Sehnsucht, Hoffnung, Annahme eines bezüglichen Ereignisses. Aber es steht auch Erwartungsangst, dass man bestimmte Erwartungen nicht erfüllen könnte, was in den Bereich der Psychologie hinein reicht. 

Einige Wörter unter dieser Rubrik finde ich noch: erwartungsfroh, erwartungsvoll, erwartungsgemäß, Erwartungshaltung und Erwartungshorizont.
Ich bin froh, dass sich viele kluge Leute damit befasst haben. 

Nun nehme ich mir vor, dass ich nicht mehr so große Erwartungen habe, will mich bescheiden und froh sein, wenn auch die Erwartungen an mich nicht mehr ins Unerreichbare gehen.
Aber einiges habe ich sicher noch zu erwarten!

 

Flatter- und Flügeltiere 

Die Reisetasche war gepackt, das Auto stand fahrbereit vor der Haustür.
Ein Chorwochenende im Wasserschloss Turow stand auf dem Programm.
Die Sonne meinte es gut an diesem letzten Augustsonnabend und schien mit voller Kraft auf das alte Gemäuer und den Park mit den wunderschönen alten Bäumen. 

Den ganzen Vor- und Nachmittag probten die einzelnen Stimmen die neuen Lieder für das Herbst- und Weihnachtskonzert. Dazwischen boten die Mahlzeiten der hauseigenen Küche eine willkommene Abwechslung.
Am Abend fand wie jedes Jahr ein gemütliches Beisammensein bei einem Gläschen Wein, Liedern, lustigen Versen und Sketchen statt. 

Die Nacht war schon recht frisch und das Öffnen der Hotelfenster versprach eine Abkühlung der warmen Räume.
Wir dachten, bis zur Nachtruhe können sie weit offen stehen, denn Einbrecher könnten die hohen Mauern sowieso nicht erklimmen. 

Da hatten wir falsch gedacht. Es kamen zwar keine Einbrecher aber umso mehr Fledermäuse, die sich nachts im Schlosspark tummelten.

Als wir spät in der Nacht unser Zimmer betraten, flatterten uns die schwarzen Gesellen im Sturzflug lautlos um die Ohren.
Das war ein Schreck in der Abendstunde! Wie sollten wir die nun wieder loswerden?
Also erst einmal das Licht wieder ausschalten. Die Fledermäuse - es waren bestimmt 15 an der Zahl - flatterten weiter. Wir wedelten aus Leibeskräften mit irgendwelchen Kleidungsstücken im dunklen Zimmer herum, um ihnen den Aufenthalt bei uns zu vermiesen.
Die meisten ließen sich vertreiben bis auf zwei. Die hingen nach wie vor an der Gardinenstange. Wir konnten sie im schwachen Mondlicht als zwei schwarze Tierkörper ausmachen.
Wie sollte man die nun verjagen? Ließen sie sich anfassen und aus dem Fenster setzen? Eine Leiter hatten wir ja nicht und die Gardinenstange war in schwindelnder Höhe. Sie wollten nicht weichen. Vielleicht waren es Vampir-Fledermäuse, die uns nachts anzapfen wollten.
Inzwischen war es schon Mitternacht geworden, und die Sage vom Schloss berichtet, dass ein grausamer Schlossherr seine ungehorsamen Untertanen in den dicken Mauern der Burg hatte einmauern lassen. Eine schreckliche Vorstellung!
Um Mitternacht  würden sie als Gespenster durch das Schloss geistern.
Also, unsere Stimmung war nicht gerade rosig mit diesem Gedanken im Hinterkopf.
Aber wir sind ja nicht abergläubig.
Erst als wir sie mit unseren Stoffpropellern fast berührten, verließen die beiden Fledermäuse ihren Platz und begaben sich nach draußen. 

Als wir dann endlich an die verdiente Nachtruhe denken konnten, sang uns ein Chor von Mücken in den Schlaf. Die mussten wir nun wohl oder übel in Kauf nehmen, denn noch einmal die Fenster zu öffnen, war uns vergangen. 

Trotzdem ist die Atmosphäre in und rund um das Wasserschloss wunderschön, und wir freuen uns jedes Jahr auf das Chorwochenende in Turow.   


Greifswalder Geschichten 

„Ursel, lauf mal schnell zum Ryck, die Fischerboote sind zurück.“ Der Vater schickte am liebsten seine jüngste Tochter los, denn Ursel hatte flinke Füße und war schnell zurück. Dann gab es am Abend gebratene Flundern.

Ursel mochte es, wenn der Duft vom Bratfisch durch das Klein Hüsung zog.
Sieben Kinder saßen mit Mutter und Vater um den Tisch herum und warteten, dass die Mutter das Essen auf den Tisch stellte.
Stolz blickte der Vater auf seine Kinderschar, die das Hüsung im Schatten der ehrwürdigen Marienkirche mit Leben erfüllten. Aber genauso stolz war er auf seine schöne Frau und hatte es noch keinen Tag bereut, dass er sie zur Frau genommen hatte.
Die Leute hatten ihn gewarnt: „Du, das ist ein ganz armes Mädchen.“
„Gerade darum nehme ich sie“, war stets seine Antwort.
Die Eltern seiner Frau waren nämlich bei der großen Sturmflut im Jahr 1905 in Wieck bei Greifswald ums Leben gekommen. Die Flutwelle kam über Nacht und hatte das Haus an der Mündung des Rycks und ihre Eltern und Geschwister in den Tod gerissen. Am Hafenamt in Wieck kann man noch heute die Hochwasserstände ablesen. Nur seine Frau, die damals noch ein Mädchen war, überlebte, weil sie genau in dieser Nacht bei Verwandten im nahen Greifswald zu Besuch war. 

Zu gern hörte Ursel zu, wenn sich die Eltern die alten Geschichten erzählten.
Wenn die Mutter nähte oder stopfte, bat sie manchmal, sie sollte ihr doch „ihre“ Geschichte erzählen. Ursel hatte eine eigene Geschichte, denn kein anderes Kind der Familie konnte sich rühmen, als Baby in einem neugekauften Schweinetrog gelegen zu haben.
Die Nachbarn kamen, besahen und bestaunten das Neugeborene im Schweinetrog. Nachbar N., der von Verwandten aus Amerika einen mit Lebensmitteln gefüllten Wäschekorb geschickt bekommen hatte, jammerte es, dass das Baby in einem Trog liegen musste, und er spendete großzügig seinen Korb. Acht Kinder haben später in diesem Korb ihren Lebenslauf begonnen. Dann kam er auf den Boden. Als das Hüsung  geräumt werden musste, fand man den Korb. Er steht noch heute in der Heimatstube in Züssow bei Greifswald. 

1938 hatte der Vater, der Maurermeister und gleichzeitig Küster der Marienkirche war, das Hüsung käuflich erworben. Die Kaufurkunde hängt noch heute bei Ursel eingerahmt an einer Wand ihrer Wohnung.
Der vorherige Besitzer, ein Logenbruder (Freimaurer) hatte den Freitod im Ryck gewählt, hinterließ eine Tochter, Liese mit Namen. Liese war, wie der Volksmund sagte, nicht ganz ordentlich im Kopf. Zwar war sie immer nett und freundlich, aber sie machte so Sachen.
Als Ursel geboren wurde, hatte Liese für deren Mutter eine Gans braten wollen. Aber sie rupfte sie nicht und nahm sie auch nicht aus, sondern steckte die geschlachtete Gans – so wie sie war – in den Kanonenofen, um sie zu braten. Wie sie das Tier in das Ofenloch hinein und wieder herausbekommen hatte, muss man sich mal vorstellen.
Sie brachte Ursels Mutter die kohlrabenschwarze Gans mit den Worten: „Du musst nu düchtig äten, dat du allwedder tau Kräften kümmst.“
Außerdem hatte Liese ein ganzes Zimmer voll mit Katzen, die sie abgöttisch liebte.
Liese kam nach dem Tod ihres Vaters in ein Heim nach Ückermünde.
                                                            
Also, seit 1938 gehörte das Klein Hüsung Ursels Familie und sie selber bewohnte es später mit ihren beiden Jungen bis zum Abriss wegen Baufälligkeit.
40 Jahre war ihr Vater Küster der Marienkirche. Das bedeutete, dass morgens und abends die Glocken geläutet werden mussten, die Kirche im Winter sonnabends und sonntags mit Steinkohle geheizt und alle vier Stunden nachgelegt werden musste, um wenigstens 12 Grad Wärme zu erreichen.
Auch bei Taufen, Hochzeiten oder Totenmessen musste geläutet werden. Nicht einen Tag Urlaub konnte Ursels Vater in diesen vierzig Jahren machen. Aus dieser Zeit stammt wohl auch der Ausspruch: Hei sitt an wie de Köster mit de Glocken. 

Ein Festtag war es für Ursel und ihre Geschwister, wenn die Eltern sonntags verkündeten: Kinner, wi führen hüt mit `n Schepp.
Dann bestieg die Familie den Dampfer von Kapitän Fehlhaber, der vom Greifswalder Hafen bis nach Wieck fuhr. Was gab es da nicht alles zu sehen und zu entdecken. Ursels Kopf mit den geflochtenen Zöpfen drehte sich nach allen Seiten.
Man konnte aber auch hinter der Wiecker Brücke auf den Dampfer „Amanda Oberbösting“ steigen und bis Stubbenkammer fahren. Der Dampfer hatte seinen Namen nach einem Greifswalder Original bekommen, denn alle Greifswalder kannten Amanda Oberbösting, die ihren Leierkasten in einem alten Kinderwagen durch die Straßen der Stadt fuhr und die Leute für ein paar Pfennige mit der Musik erfreute.
Wenn sich die Familie dann auf „hoher See“ befand, gab Ursels Vater gern die Geschichte von den zwei älteren Damen, die das erste Mal zur See fuhren, zum besten:
„Oh, Alming“ sagte die eine zur anderen, wenn wi blot allwedder tau Hus wiern.“
Zu ihrer größten Beunruhigung kam noch ein Sturm auf.
Tilly, die Freundin, wagte sich den Kapitän anzusprechen: „Käptn, wie wiet sünn wi denn von Land entfernt?“
„So, wie ik de See kenn, sünn dat keine föftig Meter, miene Damen“, sagte der Kapitän.
„Aber, dat ist doch veel wieder“, wagte Tilly den Einwand.
„Ja“, meinte der Kapitän, „dat sünn nich die Sieden, wo Sei henkieken. Na ünnen sinn es föftig Meter, na ünnen, op den Grund, miene Damen.“
Vater hatte die Lacher immer auf seiner Seite. 

Seine Arbeit als Küster nahm er sehr genau.
In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die Annenkapelle viele Jahre abgesteift, um das Gewölbe zu stützen. Sie war als baufällig abgestempelt worden und es drohte der Abriss. Der damalige Pastor P. wollte aus der Annenkapelle eine Winterkirche machen, die man sparsamer beheizen konnte als die große Marienkirche und es ist ihm zu verdanken, dass sie heute noch steht.
Es kamen zwei Bauingenieure aus Berlin, überprüften alles gründlich und gaben grünes Licht für den Einbau einer Heizung und für die Restaurierung. 

Ursels Augen glänzten, wenn der Vater Geschichten erzählte. Da konnte sie ihren Lockenkopf an Vaters Jackenärmel legen und stundenlang zuhören. 
So hatte er auch eine Story auf Lager von der feinen Dame, die regelmäßig am Ende des Gottesdienstes in Ohnmacht fiel. Sie hatte sich in den stattlichen Pastor verliebt und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
Pastor P, der verheiratet war, sagte jedes Mal mit einem Augenzwinkern zu seinem Küster: „Versuchen wir es doch mit Weihwasser, sie wieder zum Leben zu erwecken.“ 

Aber nicht nur der Vater von Ursel hatte seine Arbeit in der Marienkirche. Die Mutter war für die Sauberkeit verantwortlich. So mussten Ursel und ihre älteren Schwestern fleißig mithelfen beim Staubwischen und Saubermachen und die älteren Brüder mussten die Glocken läuten, wenn der Vater als Maurermeister seiner Arbeit nachging.
So hatte Ursels Bruder einmal einen gefährlichen Besucher in der Kirche. Dieser wollte die Kirche besichtigen und der Vater hatte keine Zeit. Also führte er den Besucher in der Kirche herum, machte ihn auf die Malerei am Deckengewölbe aufmerksam und auf die Kanonenkugeln, die im Mauerwerk steckten. Als sie beim Altar ankamen, fing der Mann an, die Blumentöpfe um den Jungen herumzustellen. 
Das kam diesem nicht geheuer vor. Als er zum Entsetzen sah, wie der Fremde ein Messer aus der Tasche zog, nahm er seine Beine in die Hand und floh im Zickzack aus der Kirche. Als er den Vater holte, war vom unheimlichen Besucher nicht mehr zu sehen. Nur die Blumentöpfe standen noch im Kreis vor dem Altar. 

Ursels Bruder konnte auch vom Spuk im Kirchturm der Marienkirche berichten.
Wie schon erwähnt, mussten die älteren Brüder dem Vater beim Küsterdienst helfen, indem sie die Turmuhr aufzogen, was damals noch mit der Hand geschah.
Einmal kam ein Cousin zu Besuch und wollte sich einen Scherz erlauben. Er schlich sich vor dem Bruder auf den Turm, hängte sich ein weißes Laken um und gab schauerliche Laute von sich.
Aber so leicht waren die Küsterjungen nicht zu erschrecken und er schrie das „Gespenst“ an: „Wenn du nicht gleich sagst wer du bist, schmeiße ich dich mit deinem Nachthemd die Treppe herunter.“ Dabei holte er aus und versetzte dem „Gespenst“ einen Schwinger, der sich gewaschen hatte.
Am Nachmittag wunderten sich die Eltern, woher der Cousin ein blaues Auge hatte. 

Es gab auch in den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts viele angesehene Bürger in der Stadt Greifswald.
Zu ihnen gehörte Fräulein L.
Sie betreute als Hausdame die Studenten der Theologischen Fakultät in der Steinstraße. Sie war so mit irdischen Gütern gesegnet, dass sie für ihre Tätigkeit kein Gehalt nahm. Es widersprach auch ihrer christlichen Gesinnung, von den armen Studenten Geld für Kost und Logis zu kassieren.
Ihr Vater, ein persönlicher Sekretär des Herrn von Arnim, hatte ihr diesen Reichtum hinterlassen. Auf seinen Reisen hatte er viele kostbare Souverniers gesammelt und seiner Tochter mitgebracht, dass sie ein kleines Museum damit hätte füllen können. 

In Greifswald war Fräulein L, die 99 Jahre alt wurde, so hoch geachtet und verehrt, dass man ihr – als sie im hohen Alter schwerhörig wurde – die Sonntagspredigt schriftlich mit nach Hause gab, damit sie diese nachlesen konnte.
Ursel mochte auch Vaters Erzählung vom Weinkenner, der nach jedem Abendmahl wartete, bis alle Leute die Marienkirche verlassen hatten. Dann schlich er sich in die Sakristei, trank die angebrochene Flasche mit dem Messwein aus und füllte sie mit Wasser auf.
Als man ihm auf die Schliche kam, schloss man die Sakristei ab. 

Einmal im Jahr kam der Orgelstimmer in die Marienkirche, um die Orgel zu stimmen.
Die Brüder mussten ihm dabei zur Hand gehen. Doch einmal kam er ganz aufgeregt zu Ursels Vater: „Schicken Sie mir bloß nicht wieder diesen Lauselümmel! Ich kriege ja mein Frühstück nicht runter, wenn der Bengel auf der Balkonbrüstung balanciert.“
Deshalb brauchte dieser Bruder dem Orgelstimmer nie wieder zu helfen. 

Als Ursel älter wurde, beteiligte sie sich an den Späßen, die die Brüder veranstalteten.
Manchmal kam der Seilermeister J. zum Vater. Er hatte eine Seilerei auf dem Schießwall und sagte oft: „Ich verdiene mein Geld im Rückwärtsgehen“.  Denn wer ihm bei der Arbeit zugesehen hatte, wusste, dass er im Rückwärtsgang die einzelnen Enden zu einem dicken Seil drehen musste. Er hatte sich vor dem Krieg in weiser Voraussicht soviel Material eingelagert, dass er viele Jahre damit arbeiten konnte.
Dieser Seilermeister war äußerst gutmütig, so dass er sozusagen eine Zielscheibe für den Schabernack der Geschwister war.
Sehr auffallend an ihm waren seine großen Ohren. Im Alter konnte er etwas schwer hören und legte eine Hand hinters Ohr, um besser verstehen zu können. Redeten die
Kinder dann lauter, tat er leicht entrüstet und sagte: „Schrei doch nicht so!“
Einmal hatten Ursels Brüder ihm einen Ringelschwanz vom Schweineschlachten hinten an seine Jacke geheftet. Vielleicht hat er den Spaß durchschaut und wollte kein Spielverderber sein, vielleicht hat er es aber nicht bemerkt. Jedenfalls ging er zur größten Erheiterung der Kinder mit dem Ringelschwanz nach Hause. Das waren noch Späße! 

Viel konnte Ursel von ihrer Lehrerin erzählen: Man nannte sie „Die Perle“, denn sie hatte ihnen erklärt, dass Margarete – so war ihr Vorname – die Perle bedeutete.
Fräulein Margarete T. war die Lehrerin für die unteren Klassen und sie war wirklich eine Perle. In ihrem Unterricht legte sie den Grundstein für die Liebe zur Literatur und Poesie im Leben. Sie verstand es meisterhaft, berühmte Dichter zu interpretieren und gab ihren Schülerinnen manchen Spruch für das Leben mit auf den Weg.
Großen Wert legte Fräulein T. darauf, dass ihre Mädchen einmal  gebildete Menschen werden. Ihr Spruch war: „Kinderchen, euer Gehirn muss lauter kleine Schubkästen haben, die im richtigen Moment aufgezogen werden können, um euer Wissen anzuwenden.“
Fräulein T. hatte die Mitte des Lebens bereits überschritten, als sie Ursels Lehrerin wurde. Sie wohnte und lebte mit ihrer Schwester zusammen, die ihr den Haushalt führte, während sie den Lebensunterhalt verdiente.
Sie trug einen Madonnenscheitel und hatte ihr silbergraues Haar Welle an Welle um den Kopf gelegt und hielt die Haare an jeder Seite mit einer Libellenspange. Am besten gefielen Ursel ihre wunderschönen blauen Augen, die richtig strahlen konnten. Eine Woche lang trug sie immer dieselbe Kleidung, entweder Rock und Bluse oder im Sommer ein dunkelblaues Kleid mit weißen Punkten, wobei sich kleine mit größeren Punkten abwechselten und in einer Bordüre endeten.

An der rechten Hand trug sie einen Ring mit einer Perle, vielleicht als Pendent zu ihrem Namen Margarete. Die Perle war eingefasst in kleine Diamanten, die – wenn die Sonne darauf schien – in allen Farben leuchteten. Ursel war es so, als wenn sich dieses Funkeln in ihren Augen widerspiegelte. Am linken Ringfinger trug sie einen Verlobungsring. Später erzählte sie mal ihren Schülerinnen, dass ihr Bräutigam leider nicht aus dem 1. Weltkrieg zurückgekehrt war. Fräulein T. trauerte ihr ganzes Leben um ihn. 

Einmal im Jahr wanderte die Lehrerin mit den Kindern an den Sölkensee nach Weitenhagen. Dort saßen sie im Gras und verspeisten ihre Wegzehrung. Fräulein T. rezitierte währenddessen „Die Kraniche des Ibykus“, aus dem Kopf natürlich.
Der Zufall wollte es, dass wilde Schwäne geflogen kamen, und die Mädchen stellten sich vor, es wären die Kraniche des Ibykus, denn jede wollte so tapfer und mutig sein wie die Freunde in der Ballade.
Fräulein T. zeigte den Kindern seltene Pflanzen und Pilze im Wald und nannte ihre Namen. Damit führte sie sie in die Botanik ein. 

Jahre später, als aus der kleinen Ursel längst eine junge Dame geworden war, die ihre Haare nach der damaligen Mode in zwei Seitenrollen gedreht und im Nacken einen geschlungenen Knoten trug und zur Höheren Mädchenschule ging, gab es noch einen Anlass, wo sie ganz besonders stolz auf ihren Vater, den Küster, war:

Als die Russen 1945 in Greifswald einmarschierten, erhielt er vom Superintendenten die Order, die Kapitulation der Stadt durch eine weiße Fahne vom Turm der Marienkirche zu bekunden. Auch von den anderen Kirchtürmen der Stadt wehten diese Zeichen der Kapitulation.
Er war sogar mehrere Male die vielen Stufen auf den Turm gestiegen an diesem bedeutungsschweren Tag, denn in dem hektischen Durcheinander und in der Eile dieser historischen Angelegenheit – der kampflosen Übergabe Greifswald durch Rudolf Petershagen – hatte er das weiße Laken unten in der Sakristei liegen gelassen. Das erzählte der Vater aber nur den guten Bekannten, die es hören wollten. 

Wie Ursel später ihre große Liebe heiratete, zwei Jungen das Leben schenkte und ihren Mann am Tag der Geburt des zweiten Sohnes durch einen Motorradunfall verlor und sie ihre Jungen ohne Vater aufgezogen hat, das ist aber wieder eine andere Geschichte.

 

Heinrich VIII. - Mörder auf dem Thron 

Winter 1547 in England. Der König liegt im Sterben. 

Heinrich war ein schöner, junger Mann, als er mit 18 Jahren den englischen Thron bestieg und Katharina von Aragon heiratete. Er führt ein zügelloses Leben, ein Fest jagt das andere. Katharina nimmt es mit Humor. Begehrt von den Frauen, unterstützt von der Kirche, geht es ihm vor allem um Macht. Er wird zum Tyrann, zum skrupellosen Gewaltherrscher, Zerstörer der Klöster und setzt sich selber zum Oberhaupt der Kirche ein. Wertvolle Architekturen und Kunstschätze gehen verloren. Der Klerus wird entmachtet. 

Heinrich verliebt sich in die 20jährige Anna Boleyn. Er schreibt ihr persönliche Liebesbriefe, unterschreibt sie mit Henry Rex. Von seinen Jagden schickt er ihr Wild. Anna ist geschmeichelt, hält ihn aber hin. Sie will mehr. Weigert sich, seine Geliebte zu werden. Sie bezaubert ihn mit ihrem jungendlichen Charme, aber sie will Königin werden.
17 Jahre ist Heinrich mit Katharina verheiratet, sie hat ihm aber nur eine Tochter geschenkt, Mary. Er will aber einen männlichen Erben, um die Tudor-Dynastie zu sichern. Dauernd ist er auf der Jagd, regieren können seine Berater. Er lässt Wildparks anlegen, baut das Jagdschloss Barclay. Noch heute lagern dokumentarische Kostbarkeiten in Barclay. 

Heinrich will sich wegen Anna Boleyn von Katharina trennen, aber sie ist aus einflussreichem Haus. Er fürchtet Karl V und die Kirche. Karl V ist Kaiser der römischen Nation, hat 25 Millionen Einwohner unter sich. England hat zu dieser Zeit 2,3 Millionen Einwohner. Heinrich kämpft gegen die Franzosen, greift sie mit seiner Kriegsflotte an und verliert. 70 Kriegsschiffe nennt er sein eigen, baut das Flakschiff
Mary Ross, revolutioniert die Navy. 

1527 will Heinrich die Ehe mit Katharina vom Papst annullieren lassen, um sie los zu werden. Als Grund gibt er an, dass sie ihm keinen Thronfolger gebären kann. Papst Clemens ist in der Zwickmühle: Entweder wendet sich Karl V. gegen ihn oder Heinrich kehrt der Kirche den Rücken.
1529 erscheint Katharina im Gerichtssaal und hält eine Rede, die keiner vergessen wird. Sie will die Verhandlung in Rom weiterführen. Heinrich fühlt sich gedemütigt.
39 Jahre ist er jetzt alt und hat noch keinen Sohn.
Papst Clemens kann nicht nachgeben.
Der Kardinal wird abgesetzt und entgeht nur durch eine Krankheit und seinen schnellen Tod der Todesstrafe. 

Neuer Berater wird Thomas Morus (Verfasser der Utopia). Er will Friede, Weisheit und Toleranz. Morus wird Lordkanzler. Gespräche über Bücher, Astronomie und politische Streitgespräche verbinden sie.
Heinrich fordert von Morus  und seinen Untertanen den Suprematseid. Danach kommt der König vor Gott. Morus verweigert. Heinrich setzt sich als Oberhaupt der Kirche ein. Morus kommt in den Tower, seine Frau und seine vier Kinder bangen um sein Leben. 1631 wird Morus nach einem Fluchtversuch geköpft. Sein Kopf wird zur Abschreckung auf einen Pfahl vor dem Tower gespießt. Morus hat auf alles verzichtet, obwohl er alles hätte haben können.
Eine wahre Ketzerverfolgung setzt ein.
Sechs Jahre hat Heinrich nun schon auf Anna Boleyn gewartet.
Katharina wird vom Königshof verbannt, muss ihren Schmuck abgeben und wird Heinrich nie wieder sehen.
Nun gibt sich Anna ihm hin. Endlich bekommt er seinen Thronfolger. Heinrich fühlt sich jung wie nie, spielt täglich Tennis.
Anna wird schwanger. 1533 wird ein Mädchen geboren, Elisabeth.
Heinrich eilt an das Bett seiner Frau und ist tief enttäuscht von ihr. Er sieht es als Gottesurteil, erscheint nicht zur Taufe des Kindes. 

Schicksalsschläge erschüttern Heinrich. Nach einem Jagdunfall liegt er im Koma. Anna, erneut schwanger, erleidet in dieser Nacht eine Fehlgeburt. Es war ein Junge. Anna weiß, in welcher Gefahr sie lebt.
Zu dieser Zeit macht Heinrich längst einer anderen Frau den Hof, Jane Seymour und will nun Anna loswerden. Er bezichtigt sie des Ehebruchs. Unter der Folter gesteht ihr Bruder, mit ihr Ehebruch getrieben zu haben.
Vor ihrer Hinrichtung hält Anna eine Rede. Sie will niemanden anklagen: Gott schütze den König! Er soll der liebenswerteste und beste König gewesen sein. Heinrich, der zur Zeit ihrer Hinrichtung Tennis gespielt hat, gesteht ihr den Tod durch das Schwert zu. Er hat Anna geliebt, aber sie schenkte ihm keinen Thronfolger.

Im Palast wird nach der Hinrichtung gefeiert. Schon einen Tag später heiratet er Jane Seymour. Der Hof ist entsetzt.
Wenn es ihm jetzt nicht gelingt, einen Thronfolger zu zeugen, ist er der Lächerlichkeit preisgegeben.
Fast 50 Jahre ist er jetzt alt, ist am Ziel seiner Wünsche. Jane schenkt ihm den ersehnten Sohn, stirbt aber ein paar Tage nach Edwards Geburt. 

Jetzt wird Heinrich krank, fett, paranoid, brutal. Er heiratet noch dreimal. Die 4. Ehefrau ist eine Deutsche, die 5. wird hingerichtet, seine 6. Ehefrau überlebt ihn. 

1546 verschlimmert sich seine Krankheit. Sein offnes Bein heilt nicht mehr zu, er liegt meistens im Bett, hat wüste Träume, ist nur noch im Dämmerzustand. Heute wissen wir, dass es womöglich die Zuckerkrankheit gewesen sein kann, die er sich durch seine Völlerei, den Wein und sein ausschweifendes Leben zugezogen hatte.  
Aus der Chronik geht hervor, dass in einem Monat 6300 Pfund an Arztkosten ausgegeben wurden. 

Heinrich weiß, dass er sterben muss. Er macht sein Testament. Edward soll sein Nachfolger werden, an zweiter Stelle der Thronfolge steht Mary, Katharinas Tochter und an dritter Stelle Elisabeth, die Tochter von Anna Boleyn. 

Aus der Geschichte weiß man, dass Elisabeth England zur Großmacht machte. Die Tochter, die nicht gewollt war, lenkt jahrelang die Geschicke Englands mit großem Erfolg.  

 

Ich suche dich 

Was ich schon immer einmal wissen wollte:
Gibt es eigentlich den Beruf eines Zahnbürstenherstellers?
Wenn ja, dann gehören die Macher weggesperrt, glauben Sie mir, die sind hinterhältig und gemein, was sie mit uns anstellen. 

Jeder Mensch - ob groß oder klein -  hat morgens, abends oder auch zwischendurch das Bedürfnis, sich die Zähne zu putzen. Das ist sauber, hygienisch und von klein auf gelernt. Aber da geht der Ärger am frühen Morgen schon los.
Als Gegner einer elektrischen Zahnbürste von wegen des Stromverbrauchs und sonstiger Bedenken öffne ich morgens ausgeschlafen und gut gelaunt den Spiegelschrank im Bad, um meinen Becher mit der Zahnbürste herauszunehmen.
Farbig, auch manchmal gestreift, lächelt sie mich an und dabei hat sie es faustdick hinter den Ohren. Ihr Rücken ist nämlich nicht glatt, damit er auf meinem Becher liegen kann, während ich ihr eine kleine Schlange Zahnpaste aufdrücke. Nein,
sie buckelt! Rund, gewölbt oder s-förmig gebogen wie eine Wirbelsäule lässt sie sich nicht im Guten wie im Bösen auf dem Becher halten. Jedes Mal rollt sie herunter,
fällt und spritzt die Zahnpaste als Schmierstreifen ins Waschbecken, wo ich diese dann mit den Borsten wieder aufnehmen muss. Sie verstehen, wegen der Sparsamkeit! 

Da wollte ich sie eines Tages überlisten, legte sie also nicht auf den Becher wie üblich sondern auf den Waschbeckenrand. Denkste! Was macht sie? Sie blieb auch hier nicht auf dem Rücken liegen, nein, sie schlug um, die Zahncreme klebte nun zwischen der Kette, an der der Stöpsel hängt. Sie hat mich ausgetrickst! 

Ich denke mir, bleibe ruhig! Die kurze Zeit des Tages, wo man sich die Frische für den Mund gönnt, kann ich die Widrigkeit mit der Bürste in Kauf nehmen. Aber die Zeit summiert sich, auch die Anzahl der Bürsten steigt ins Unermessliche. Die Schubladen füllen sich. Eine von ihnen muss doch mal meinen Anforderungen genügen!
Ich kenne mittlerweile alle Sorten: die mit dem Schwingrücken von Dr. Best, die Sorten von blend-a-dent, Alldent, Kurikur, Purodent und wie sie alle heißen. Vielleicht eröffne ich demnächst ein Zahnbürsten-Museum. Ich besitze bereits die abenteuerlichsten Modelle. 

Sogar im Ausland habe ich schon nach einem besser geeigneten Exemplar Ausschau gehalten. Aber Deutschland exportiert seine Bürsten sicher auch dort hin. 

Neulich, wir waren bei unseren Freunden zum Abendessen eingeladen, gönnte ich mir vorher noch eine Dental-Frische, ignorierte den Absturz ins Waschbecken, bemerkte aber nicht, dass sich einige Spritzer der Zahnpaste beim Sturz auf meiner Ausgehbluse breit gemacht hatten und kam so bekleckert - nichts ahnend - bei unseren Gastgebern an. 

Darauf hingewiesen, steigerte sich mein Unwillen auf die borstigen Gesellen ins Bodenlose. Und deshalb muss ich mir einmal Luft machen.
Haben andere Leute nicht diese Probleme, das wüsste ich zu gerne.

Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Hersteller bzw. Erfinder der Zahnbürsten eines Tages doch noch darauf kommen, dass eine Bürste mit einem glatten Rücken besser auf einem Becher liegen kann als eine runde, gewölbte, geschwungene, gedrehte oder gebogene, egal wie sie in der Hand liegt. 

Und dann werde ich zuschlagen, mindestens zehn Stück werde ich mir kaufen, das versichere ich Ihnen.


Im Garten des Geschichtenerzählers 

In einer englischen Kleinstadt lebte ein Mann, der mit 35 Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte und seitdem linksseitig gelähmt war. Seine ganze Kraft verwendete er darauf, dass er wieder sprechen lernte, denn arbeiten konnte er nicht mehr.
Als er wieder einigermaßen gut laufen konnte, bewarb er sich bei der Gemeinde als Geschichtenerzähler im großen Garten des Ortes.
300 Geschichten hatte er im Kopf, die er den Besuchern der Kleinstadt an verschiedenen Orten erzählte. Oft wurde er gefragt, wie er sich so viele Geschichten merken kann. Das aber ist sein Geheimnis.
Seine Frau nähte ihm einen Mantel, auf dem viele Bilder zu sehen sind. Zeigen die Besucher des Gartens auf die Katze, gibt es die Katzengeschichte. Zeigen sie auf das Schloss, erzählt er die Gesichte von Graystock usw. 

Eine Geschichte heißt:

 Ein Topf voll Erde

In einer Stadt wurde ein würdiger Nachfolger des Bürgermeisters wurde gesucht. Viele meldeten sich.
"Wer die schönste Sonnenblume bringt, der wird Bürgermeister", hieß es.
Sonnenblumensamen wurden ausgeteilt. Jeder bekam die gleiche Anzahl Körner.
Nach einigen Wochen zum angegebenen Termin stand eine lange Reihe von Männern vor dem Rathaus mit einem Topf voll schönster Sonnenblumen in der Hand. Jeder wollte den anderen überbieten.
Ganz am Ende stand Fred mit einem Topf voll Erde ohne Sonnenblume drin. Nur Erde hatte er in seinem Topf. Eine Träne rollte langsam seine Wange herunter, weil er die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens vorhersah. 

Der alte Bürgermeister ging die Reihe entlang und blieb bei Fred stehen:
"Du wirst der neue Bürgermeister, du bist am ehrlichsten, denn ich habe die Sonnenblumenkerne vorher gekocht. Sie konnten gar nicht aufgehen. Also bist du der Ehrlichste und du sollst der neue Bürgermeister werden." 

Da gingen die anderen mit ihren Sonnenblumen in den Töpfen und mit langen Gesichtern nach Hause. 

In letzter Minute 

Emmi hatte ein Kaninchen, weiß-grau-gefleckt, namens Flecki, das sie liebte und pflegte. Der Nachbar hatte es ihr in Geberlaune, als er mal einen über den Durst getrunken hatte, geschenkt.
Er wusste nämlich, dass Emmis erstes Kaninchen der Fuchs geholt hatte und dass sie deshalb sehr traurig war.  Es war ein braunes Hasenkind, so braun wie Afrika und deshalb hatte sie es Afrika genannt. 

Emmi wollte mit der Oma in den Urlaub nach Hiddensee fahren. Konnte sie Flecki denn acht Tage allein lassen?
Die Überfahrt mit dem Schiff ließ sie ihren Flecki für einige Zeit vergessen. Aber am Abend rief sie die Mutter an und fragte:
"Mutti, geht es meinem Flecki gut? Hat er mich schon vermisst?"
Das kleine Mädchen erkundigte sich oft nach ihrem Haustier.
Die Mutter beantwortete alle Fragen schweren Herzens, denn Flecki war ganz plötzlich über Nacht verstorben.
Der Tod des Kaninchens versetzte die Familie in helle Aufregung. 

Bald würde Emmi mit der Oma von der Reise zurückkommen, dann würde sie den leeren Stall vorfinden und schrecklich weinen wie damals als Afrika verschwunden war. Die Mutter wusste das schon vorher.
Was sollte nun werden? 

Ein anderes Kaninchen musste her. Eins, das aussah wie Flecki: weiß-grau-gefleckt, eben Flecki. 

Jede Zoohandlung im Ort und in der Umgebung wurde abgeklappert. Ja, es gab weiße, silbergraue, getigerte, orange, aber keine gefleckten.
Dann, am Vorabend von Emmis Rückkehr aus dem Urlaub, fünf Minuten vor Ladenschluss, fand man in einem Geschäft ein braunes Kaninchen. Fast war es noch ein Baby, hatte Schlappohren und ein wuschliges Fell. 

Emmi kam, sah das braune Fellknäuel im Käfig und brach in Freudentränen aus. Mein Afrika ist wieder da. Er hat den Weg zu mir zurück gefunden. Also haben meine Suchanzeigen doch etwas genützt. Emmi hatte nämlich ihr braunes Kaninchen auf Handzettel gemalt und im Haus verteilt.
Jetzt ging die Fragerei los:
Wo ist denn Flecki? Der wollte zurück zu seiner Mama.
Warum ist Afrika denn so klein geworden? Vielleicht hat er nicht genug Futter gefunden.
Und warum hat er auf einmal so zotteliges Fell? Na, weil er den Winter über draußen verbracht hat.
Und warum hat er jetzt solche Schlappohren? Die sind ihm eben mit der Zeit gewachsen.
Alles fromme Lügen für ein kleines Mädchen, dem man in letzter Minute den Trennungsschmerz erspart hatte. 

Selig schloss Emmi ihren geliebten braunen Afrika in die Arme, küsste ihn auf den Kopf und fing gleich an, ihn zu kämmen.
Nun konnte sie Afrika am Montag mit in den Kindergarten nehmen und ihn den Kindern zeigen. 

"Schlaf schön, mein Mädchen, " sagte am Abend die Mutter und war froh über ihr glückliches Kind. 

Im stillen dachte sie: Irgendwann, wenn du mal groß sein wirst, erzähle ich dir die Geschichte von Flecki. Aber heute bist du noch zu klein für solchen großen Schmerz. 

 

In vollen Zügen genießen 

Der weise König Salomon sagte: Fröhlich sein und guter Mut ist eine gute Gabe Gottes.
Wir fahren mal wieder mit der Bahn. Nach fast 20 Jahren sitzen wir mit einem Wochenendticket in einem überfüllten Zug. Eine Regionalbahn, die an jedem Bahnhof hält, wo man in Berlin umsteigen muss. Das kann dauern.
Eingepfercht zwischen vielen jungen Leuten, zwischen Reisetaschen und Beuteln harren wir der Dinge, die da kommen sollen.
Wir haben Zeit, müssen erst am Nachmittag an Ort und Stelle sein, da kann uns nichts erschüttern.
Eine Zeitschrift soll die Langeweile vertreiben. Aber ich habe keine Zeit dafür.
Ich lasse meine Augen durch das Abteil spazieren.
Ein Studentenpärchen hat sich schräg gegenüber hingesetzt. Den Lap-Top auf dem Schoß fliegen ihre Finger über die Tasten, aha, 10-Finger-Anschlag. Ihre Füße liegen auf den Sitzen.
Die Schaffnerin kommt, d. h. sie schiebt sich durch die Gänge:
„Die Deutsche Bahn möchte nicht, dass Sie Ihre Füße auf die Sitze legen.“
Die Füße werden auf ihre Taschen gelegt. Sofort und brav.
Ein anderer Mitreisender, frühes Mittelalter, guckt aus dem Fenster, gestikuliert ab und zu, lacht, spricht laut mit sich selbst.
Armer Kerl, denke ich, wohl übergeschnappt.
Mein Mann sagt: „Vielleicht arbeitet er an einem Vortrag.“ Kann ja sein!
Die Studentin neben mir und ihrer voluminösen Tasche, aus der Bücher und Wäsche herausgucken, isst von Greifswald bis Berlin. Dabei hört sie etwas Lustiges aus ihrem MP3-Player.
Vor jeder Station zischt eine männliche Stimme, nachdem eine Volksliedmelodie verklungen ist, den nächsten Haltepunkt durch den Lautsprecher. Man kann kaum ein Wort verstehen. Nächster Ausstieg links lässt sich erahnen.
Ab und zu steigt jemand aus, drei bis vier Leute kommen dazu, bringen noch mehr Gepäck herein.
Man kann es nicht glauben, auf einmal kommt Bewegung in die Reisenden und ihre Taschen. Ein Kaffee- und Imbissverkäufer schiebt sich mit einem schmalen Wägelchen durch die Reihen. Das Gepäck wird hochgehoben. Kaum einer kauft etwas, wie auch, man hat gerade keine Hand frei.
Das hungrige Mädchen mit den Ohrstöpseln klopft den Takt auf das Fensterbrett.
Die zwei Schläfer ihr gegenüber blinzeln feindselig, fühlen sich gestört.
Die Gemaßregelte hört auf zu klopfen, isst weiter.
Da! Eine Handy-Melodie aus einer Hosentasche. An Elise mit Richard Kleidermann. Die Mitreisenden erfahren von der Geburtstagsfeier und wer daran teilnimmt. Das Gespräch wird von der Lautsprechermelodie übertönt. Ausstieg rechts. Das Gespräch ist beendet.
Die Türen öffnen sich, eine schöne Dame mit einem Buch unter dem Arm steigt zu, turnt über die Taschen. Die Stöpseldame rafft ihr Frühstück zusammen, lässt sie neben sich Platz nehmen.
Die schöne Dame liest sofort weiter, sieht nicht einmal hoch, schmunzelt, blättert, schnüffelt ein wenig.
Ein anderer Klingelton – seltsam schräg – lässt die zwei Schläfer in Stereo hochschrecken.
Der Angerufene schreit etwas, vielleicht arabisch, ins Telefon, klappt es wieder zu. 

Jetzt wird es lebhaft im Abteil, eine größere Station wird angekündigt.
Auf dem Bahnhof stehen unter anderen sechs Tätowierte. Die Arme hoch und runter bemalt, den Nacken, teilweise den Kopf. Einer mit nacktem, bunten Oberkörper.
Darf man denn so reisen?
Aber dafür gibt es wohl keine Vorschriften: „Die Deutsche Bahn möchte nicht…“ oder so.
Die Bemalten sitzen sich gegenüber, das heißt, fast liegen sie, die Beine lang ausgestreckt, die Bierflaschen in der Hand, die dann später durch das Abteil kullern.
Längerer Aufenthalt auf einem kleinen Bahnhof. Die Belegung wechselt.
Eine etwas dunkelhäutige junge Familie mit einem Kleinkind und einem Baby sowie einer Großmutter steigen zu. Zuerst geht alles brav zu. Das Baby schläft auf dem Arm der Mutter, die Großmutter will den Jungen auf den Arm nehmen, der wehrt sich, haut der Oma auf den Kopf, Die schlägt zurück. Keiner sagt etwas, auch die Eltern nicht. Die Zwiesprache wird immer lauter. Wieder ein Versuch der älteren Dame, wieder das Schlagen des Kindes und die Retourkutsche.
Andere Länder, andere Sitten. Das Baby wird wach, schreit. Die Mutter füttert es mit einer Milchflasche. Dann ist es ruhig. Nach einem dritten Versuch der Großmutter, ihrem Enkel etwas aufzuzwingen, die gleiche Prozedur. 

Die Luft wird dünn im Abteil an diesem Septembertag. Ein Blick zur Uhr sagt uns, bald müssen wir aussteigen.
Dann sind wir angekommen und stellen fest:
Wir haben das Leben in vollen Zügen genossen!

 

Klein aber fein 

Das Schiff fährt 3,5 Stunden von Saßnitz bis zur Insel Bornholm in der Ostsee. Ein dänisches Eiland mit Klippen, viel Meer und Licht, das viele Künstler anzieht – seit Generationen.
Unser Ziel ist Hammerhus mit seiner Festung auf dem Berg. Eine mächtige Ruine, die von den Bewohnern im Laufe der Zeit abgetragen worden ist. Der Herzog von Lund hatte sie einst erbaut zum Schutz gegen die Schweden.
Beim abendlichen Spaziergang mit Windlichtern und Laternen erfährt man von den Unterirdischen. Die Familie Krollebülle soll unter der Burg wohnen. Sie scheuen aber das Licht, und wenn die Eule dreimal gerufen hat, kommen sie hervor. Aber keiner hat sie je gesehen. Doch für eine Gänsehaut ist die Geschichte immer gut.
Gold, Schmuck und Münzen werden immer wieder gefunden, die die Wikinger hier hinterlassen haben.
Ein Hobby-Archäologe, der von Beruf Bäcker ist, zeigt uns seinen jüngsten Fund: ein Saitenspanner von einer Lyra.
Er erzählt so begeistert davon, dass man die Wikinger im Geiste in der Runde vor sich sieht. Mit einem Metalldetektor sucht er den Burgberg ab. Wir erfahren:
„Nach den Wikingern besetzten die Lübecker die Insel, dann kamen die Dänen.“ 

Vier Rundkirchen gibt es auf Bornholm, teils aus dem 12. Jahrhundert, die auch als Festung dienten.
Hinter dem Altarraum führt ein Geheimgang auf den Turm, wo sich in Belagerungszeiten Frauen und Kinder verstecken konnten, denn auch vor Seeräubern war die Insel nicht sicher.
Wir bewundern die Säule mit den Fresken aus dem Mittelalter. Lesen und Schreiben konnte die einfache Bevölkerung nicht, da kamen ihnen die Bilder zu Hilfe. 

Eine Hochzeit findet heute in der Kirche von Rónne statt. Traditionen werden gepflegt und groß geschrieben. Das ganze Dorf ist eingeladen.
Kein Haus sieht hier wie das andere aus, alle sind unterschiedlich angestrichen.
Die Leute sind stolz auf ihr Haus, glauben an den Hausgeist, der sie beschützt und dafür sorgt, dass es ihnen gut geht. 

20 km von Bornholm entfernt liegt die kleine Insel Christianso.
Zwölf Schulkinder werden hier in einem Raum von einer Lehrerin unterrichtet.
Wir treffen sie am Strand, wo sie aus den Spuren der Vorfahren zu lesen versuchen
Ein Kind hat eine Kröte entdeckt und aus dem Geschichtsunterricht wird eine Biologiestunde. 

Die Fischerei ist nur noch ein Hobby der Insulaner.“ Leben kann man davon nicht“ erzählt uns ein Fischer. Aber die Räucheröfen, in denen der Fisch fünf Stunden geräuchert wird, qualmen trotzdem. 

Zurück auf Bornholm nehmen wir an einem Fest teil, das jährlich stattfindet. Es unterscheidet sich stark von den Festen, die man auf dem Festland kennt. Hier ist man in Familie.
Die Einheimischen erzählen:
„Auch der dänische König kommt zur Jagd auf die Insel. Dann heißt es Anstand zu wahren, denn seine Hoheit liebt es nicht, geduzt zu werden, wie es die Bevölkerung untereinander handhabt.“
Bei einer Rundfahrt fallen uns die riesigen Löcher in den Gesteinswänden auf.
„Das sind Steinbrüche, die bis ca. 1960 existiert haben. Dann kam der preiswertere Granit aus Portugal. Noch heute kann man in Bordsteinen von Hamburg und Lübeck Bornholmer Granit finden.“ 

Wir können feststellen, die Einheimischen lieben das Picknick im Grünen. Sie sind sehr naturverbunden. 
Sie nehmen ihr Essen einfach mit in die Natur, breiten eine Decke aus und fertig ist die Tafel. 

Auch gibt es eine Misswahl auf Bornholm. Wir gucken ungläubig.
„Miss Bornholm haben wir noch nicht gehört und gesehen.“ Ein Bornholmer erklärt es uns:
„Dabei handelt es sich keineswegs um eine dörfliche Schönheit, nein, die schmuckste Kuh wird als Miss Bornholm gekürt. Ihre Gutmütigkeit, der Milchertrag und das Aussehen entscheiden.“ „Ach so!“ 

Eine liebenswerte Schönheit, die kleine Insel Bornholm. Diese Gewissheit nehmen wir mit nach Hause und sehen auf der Überfahrt nach der Insel, bis sie am Horizont verschwindet.
Und nicht von ungefähr leben die Bewohner gern dort und würden für kein Geld der Welt mit einem anderen Ort tauschen.
 

Kroatien – Die Plitvicer Seen 

Es hatte die ganze Nacht geregnet.
Die Regentropfen hatten auf das Metallfensterbrett getrommelt und mir den Schlaf geraubt.
Am Morgen war draußen Waschküche. Sonst sahen wir aus dem Hotelfenster die blaue Adria, aber heute?
Wir hatten beim Reiseveranstalter eine Busfahrt zu den Plitvicer Seen gebucht und hatten nun Bedenken, ob man überhaupt etwas von der Gegend erkennen konnte bei diesen Dunst- und Nebelschwaden. 

Aber der Bus fuhr nach Umrunden der Kvaerner Bucht bergan und wir kamen aus dem Nebel heraus ins freie Land.
Hier lag noch der letzte Schnee auf den Feldern. Den Wald hatten wir hinter uns gelassen.
Es war ein ungutes Gefühl, durch das ehemalige Kriegsgebiet zu fahren.
Hier war vor ca. 10 Jahren der Balkankonflikt bis hin zum Völkermord ausgetragen worden. Die Serben wollten das Gebiet Kroatien nicht selbständig werden lassen. Die Kroaten hatten sich erbittert gewehrt, mit vielen Verlusten.
Die Wunden des Krieges waren noch frisch. Langsam erholte sich das Land. Die Kroaten bekamen Geld zum Wiederaufbau, bauten einfach ein neues Haus neben das zerschossene oder ausgebrannte und bewirtschafteten ihre Felder wieder. Es war aber kaum ein Mensch zu sehen. 

Nun fuhr der Bus in ein Waldgebiet. Ein UNESCO-Naturerbe. Dichter Laubwald bedeckte die sanften Hügel. 30.000 ha schönste Natur.
Die Reisegesellschaft wurde vor dem Eingang des Nationalparks „Plitvicer Seen“ ausgeladen, Eintritt wurde bezahlt, dann ging es zu Fuß weiter.
Wir standen auf einer Anhöhe und hatten die Wahl: Gehen wir den oberen Waldweg entlang und sehen uns das Schauspiel der dampfenden Wasserfälle von oben an oder nehmen wir den unteren Weg, vorbei an den terrassenförmigen blaugrünen Seen mit den herabstürzenden Wassern. Wir wählten den unteren Weg.
Die Natur hatte die Seen stufenförmig angelegt. Mit einem Höhenunterschied von 135 m stürzen die Wassermassen der 16 Seen als Wasserfälle auf einer Strecke von 7 km talwärts. Ringsherum schloss sich der Wald um dieses Naturwunder.
Als die Sonne herauskam, funkelten die Wassertropfen über den Kaskaden in einem Regenbogen. Man glaubt kaum, dass Wasser so laut sein kann.
Über Holztreppen, Stufen und Brücken konnte man auf die andere Seite der Seen gelangen und hatte wieder einen anderen Eindruck von dem Schauspiel, auch wenn das gurgelnde und sprudelnde Wasser unsere Schuhe umspülte.
In der Mitte des Steges mit einer kleinen Aussichtsplattform drängelten sich die Besucher, um das beste Foto zu erhaschen.
Vom Wald eingerahmt, in dem auch Bären und Wölfe hausen sollen, sieht man die stufenförmigen Wasserfälle, die bis vor die Füße reichten und teilweise die Holzstege überspülten. Diesen Anblick musste man einfach mit nach Hause nehmen. Wir waren überwältigt von der Schönheit der Natur.
Das Karstgebiet lässt immer wieder neue Barrieren und Wasserläufe entstehen. Sie sind eine Attraktion, die 16 miteinander durch Überläufe, Wasserfälle und Höhlensysteme verbundenen Seen. 

Nach einem schmackhaften Mittagsmahl in einem der nahen Hotels im Nationalpark treten wir die Rückfahrt über die Stadt Senj an.
In Senj, so erklärte uns der junge Reiseleiter in bestem Deutsch hat man den Film „Die rote Zora und ihre Bande“ gedreht.
Senj, mit seinen Bollwerken und Befestigungsanlagen von 1 km Länge, 13 Türmen und einem Kastell aus dem 13. Jahrhundert strahlt in einem mittelalterlichen Charme. Aber auch hier sieht man an den Häusern die Einschüsse vom Kriegsgeschehen.
Nach Besichtigung des Domes aus dem 11. Jahrhundert bewundern wir das älteste kroatische Staatswappen der Familie Petrovic, das bischöfliche Wandgrab und die Tafel mit der glagolitischen Schrift. Sie kommt uns wie Runen vor. 

Mit viel Geschichte und Natureindrücken erreichen wir am Abend wieder unser Hotel an der Adria.  Zu Hause werden wir noch einmal alles Revue passieren lassen, was wir mit der Videokamera im schönen Kroatien festgehalten haben.

 

Modernes Märchen (angelehnt an Jochen Petersdorf) 

Es war einmal ein junger Verteidigungsminister. Eine Lichtgestalt in der Politik, von adliger Herkunft, ein Herr von und zu, der auch noch gut aussah und klug reden konnte. Dazu hatte er viele gute Ideen.
Weil er vorschlug, die Armee des stark verschuldeten Landes zu reduzieren, die Wehrpflicht zu verkürzen, weniger Starfighter zu bauen und auch noch die Truppen aus einem bestimmten Land bis zu einem festgelegten Termin abzuziehen, hatte er nicht nur viele Genossen aus der anderen Partei gegen sich.
Sie wollten seinen Ministersessel mit jemandem aus ihren Reihen besetzen und suchten mit Fleiß, ihm etwas am Zeug zu flicken.
Das war gar nicht so leicht.
Da kam einer auf die grandiose Idee an seinem Stuhlbein zu sägen, indem man seine Doktorarbeit näher beleuchtete. Es sei ein Plagiat.
Das Internet, die Medien und die Presse stürzten sich auf den jungen Minister. Und die Bombe schlug ein.
Wem das Wort Plagiat bislang nicht so geläufig war, bekam es jetzt serviert:
Der Minister hatte seine Doktorarbeit teilweise wörtlich abgeschrieben und die echten Verfasser im Quellen- und Literaturnachweis nicht angegeben. Vergessen? Absicht? Wer weiß?
Das war ein gefundenes Fressen für seine Widersacher. Endlich hatten sie etwas gegen ihn in der Hand. Etwas Handfestes, das seine Ehre, den Anstand, die Moral und seine Etikette verletzte. Nun musste er abtreten, denn seine Glaubwürdigkeit stand auf dem Prüfstand.
Sie tanzten um den entfachten Scheiterhaufen von einem Bein auf das andere, lachten sich ins Fäustchen, klatschten sich Beifall, freuten sich über den gelungenen Clou und waren gespannt, wie der allgemein beliebte Minister aus dieser Nummer herauskommen wollte.
Dieser flog vor Schreck erst einmal für ein paar Tage zu seinen Truppen ins Ausland und überlegte was er tun sollte. Ein bisschen rot ist er wohl auch geworden ob solcher Anschuldigungen.
Aber da kam eine gute Fee in Person der Bundeskanzlerin und sagte:
„Fürchte dich nicht, ich bin bei dir und helfe dir da rausl“, denn sie waren in derselben Partei, da hackt eine Krähe der anderen kein Auge heraus.“ Du musst nur die Wahrheit sagen.“
Da trat der schwer angeschlagene Minister vor sein Volk und verkündete:
„Glaubt mir, ich habe Fehler gemacht, habe es aber nicht mit Absicht getan.“
Da zogen seine Verleumder den zweiten Trumpf aus dem Ärmel und unterstellten ihm, er habe die Doktorarbeit sogar von anderen schreiben lassen. Das saß!
Der Minister wurde noch ein bisschen röter und entgegnete:
„Ich werde bis zur Klärung der Angelegenheit durch die Gerichte meinen Doktortitel auf Eis legen.“
 An seinem Base-Cup ließ er es vorsichtshalber stehen.
Im Stillen hoffte er, die gute Fee wird auch weiter ihre Hand über ihn halten.
Und die Fee gab ihm Zeit zum Überlegen. 14 Tage, aber nicht länger.
Seine Widersacher leckten sich erneut die Lippen und tanzten weiter um das Feuer und rieben sich die verschwitzten Hände. Sie waren darauf aus, sich den Braten am Spieß auf der Zunge zergehen zu lassen. 

Bevor das Ultimatum abgelaufen und der Minister angeschlagen aus der peinlichen Angelegenheit herausgekommen war, versteckte die gegnerische Partei schnell ihr Protegierkind unter ihrem Mantel und tat scheinheilig.
Sie wollte doch nur, dass die Wahrheit ans Licht käme. Darauf hatte man im Wahljahr schließlich ein Recht.
Dass sie in Wirklichkeit als Nestbeschmutzer und Verleumder dastand, machte ihr nicht viel aus. Vielleicht hatte sie durch die Aktion sogar mehr Wähler auf ihre Seite gezogen, weil sie ja so für die Wahrheit gekämpft hatte.
 Ein neuer geistiger Klimmzug würde bestimmt kommen.
Das Volk hält diese Schlammschlachten locker aus. Da sind sie sich ganz sicher. 

Sollte sich das Blatt wenden und der junge Minister wäre am Boden zerstört gewesen, würde das Märchen nicht gut ausgehen. Aber weil es im Märchen immer eine Lösung gibt, verabschiedete sich der junge  Minister vor seinem Volk und vor seiner Universität für immer von seinem Doktortitel und man ging zur Tagesordnung über. Was bleiben wird, ist eine Fußnote der Geschichte.

Es ist hin wie her: Pfui Teufel!

 

Nicht aufgeben 

Das Alter kommt auf leisen Sohlen,
mal piekt es hier,
mal ziept es dort.
Man braucht mehr Zeit sich zu erholen
und wird Patient am falschen Ort. 

Im Ruhestand da wollt ich doch …
                       da sollt` ich doch …
                       da ging es nicht.

Ich wollte wandern, der Berg war zu hoch.
Ich wollte fliegen, der Flug war zu weit.
Ich wollte gehen, der Weg war zu lang.
Ich wollte stehen, ach, wär´ da ´ne Bank. 

So geht’s von Jahr zu Jahr
und immer frag´ ich mich:
                        Was wollt ich noch?
                        Was sollt ich noch?
                        Das geht doch noch!
 

Noch einmal Salzkammergut 

Am 17. Juni 2011 konnte man in der Ostsee-Zeitung einen Artikel mit der Überschrift „Das doppelte Städtchen“ lesen. Auf einem Farbfoto war der Ort Hallstatt im Salzkammergut abgebildet.
Den Chinesen gefällt dieses als Weltkulturerbe geadeltes Bergdorf so gut, dass sie es in der südchinesichen Provinz Guandong im Reich der Mitte maßstabsgerecht aufbauen wollen. Sogar der Hallstätter See soll nachgebaut werden. 

Die Bevölkerung ist nicht sehr amüsiert, hat der pikierte Bürgermeister des Ortes erfahren.
Weiter kann man lesen, dass nicht nur bei der chinesischen Mittelschicht solche Nachbildungen sehr populär sind. Man denke an das Schloss Neuschwanstein oder die Freiheitsstatue oder den Eiffelturm in Las Vegas.
Sogar unsere Gebäude im Bauhaus-Stil haben die Chinesen schon kopiert. Wenn sie unsere Autos und den Airbus nachbauen, sollte uns das schmeicheln, aber spätestens, wenn  die Einwohner geklont werden, hört der Spaß auf, berichtet der Verfasser des Artikels. 

Was man dem Salzkammergut aber nicht wegnehmen kann, ist seine Geschichte.
Es ist erwiesen, dass hier schon vor 4000 v. Chr.  Bodenschätze abgebaut wurden.
Vom 13. bis 17. Jahrhundert unserer Zeit war der Abbau des Salzes für die Habsburger eine tragende Säule ihrer Wirtschaft. Sie errichteten einen einzigartigen Salzwirtschaftsstaat. Dabei beanspruchten sie das ganze Gebiet zwischen Gmunden und Aussee und unterstellten es ihrer Hofkammer. So entstand der Begriff „Kammergut“.
Hier durfte man bis 1927 nur mit einem zeitlich begrenzten Passierschein einreisen.
Es durfte nicht rein- oder rausgeheiratet werden. Das Salzkammergut war ein Staat im Staate Österreich.
Kaiser Joseph II. löste 1782 das Kammergut auf und gliederte es in Oberösterreich ein.
Im 19. Jahrhundert entdeckte man die Heilkraft der Sole und Kurorte entstanden. Bad Ischl ist einer der bekanntesten in dieser Region, wo das Geschäft mit dem „weißen Gold“ noch heute boomt. 

Wenn man in Hallstatt ankommt, wird man darauf hingewiesen, dass schon die Römer hier ihre Spuren hinterlassen haben.
In dem Ort, der keine Straßen nur Wege hat, sind im Fußgängerbereich Glasziegel eingelassen, durch die man die ersten Bebauungen der Römer betrachten kann.  In der Römerzeit sollen auch die ersten Villen entstanden sein. 

Noch heute wird das Salz in gelöster Form von Hallstatt nach Ebensee transportiert, womit bereits im Jahr 1595
begonnen wurde.
Die Salzmenge, die in einer Stunde durch die Rohre fließt, könnte den Jahresbedarf einer Kleinstadt decken. Es war sozusagen die erste Pipeline. 

Hallstatt hat einen besonderen landschaftlichen Reiz und wird jährlich von Tausenden Touristen heimgesucht.
Eingebettet in die Hohen Tauern und das 3004m hohe Dachstein-Massiv mit seinen wunderbaren Eishöhlen liegt das Bergmannsdorf am Hallstätter See.
Schon die Fahrt ins Salzkammergut ist einmalig schön. Zwischen den hohen Bergen fährt man an wunderschön gelegenen glasklaren Seen vorbei, sieht Wasserfälle und Bäche und macht Halt am legendären Weißen Rössl am Wolfgangssee, fühlt sich in ferne Zeiten versetzt.
Man ist mittendrin in einer nie vorher gesehenen Bergwelt. 

Was wir bisher nur von Fotos oder Ansichtskarten kannten, sieht man jetzt mit leuchtenden Augen. Die Alpen, Österreich, das Weiße Rössl als Souvenir für zu Hause. Hier gehen Träume in Erfüllung. 

Die zwei Kirchen von Hallstatt sind eine Touristen-Attraktion.
20 000 Fundstücke aus prähistorischer Zeit werden im ehemaligen Schulhaus und im Stökkerhaus ausgestellt.
Im so genannten Beinhaus liegen über 3000 mit Blumenkränzen, Schrift und Datum versehene und geschmückte Totenschädel und Gebeine. Da muss man schon gruselfrei sein.
Ein Brüllbach stürzt sich aus dem Berg durch den Ort zwischen den Häusern hindurch in den See. Das Wasser macht solchen Lärm, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. 

Heute lebt der Ort hauptsächlich vom Tourismus. Seine Einmaligkeit  hat  nun die Chinesen auf den Plan gebracht.
Ich glaube aber kaum, dass die Österreicher den Chinesen nacheifern und die Chinesische Mauer in ihrem Land nachbauen werden. Sie bleibt in China als Weltkulturerbe. 

 

Prora 

Im Oktober 2010 lief ein deutsch-polnisches Seniorenprojekt in der Heimvolkshochschule Lubmin zu dem Thema "Gespräche und Erinnerungen zur Verständigung über Grenzen hinweg".
Die Senioren stellten ihre "Lebenslinien" in Bildern, Lebensbäumen und Geschichten den Anwesenden vor und hörten sich geschichtliche Vorträge an. Ein Mitarbeiter von der Stiftung "Deutsch-polnische Aussöhnung" und ein Mitarbeiter des Dokumentationsbüros Prora sprach in sehr einfühlsamer Weise über die Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen in den letzten Kriegsmonaten. Ein Geschichtsstudent sprach über die Entwicklung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen bis zur heutigen Zeit. 

 Bei einer Lesung durch die "Greifenfedern" und einem Liederabend kamen   sich die deutschen und polnischen Teilnehmer dieses Projektes näher. 

Eine organisierte Busfahrt führte uns nach Prora, um an Ort und Stelle in die unrühmliche deutsche Geschichte Einblicke zu bekommen.
Prora hat für uns Deutsche einen schlechten Ruf, war es doch Hitlers Größenwahn entsprungen, ein Ferienobjekt für 20.000 Urlauber zu bauen, ein Projekt der Organisation "Kraft durch Freude."
Für Eltern mit zwei Kindern sollten die Zimmer 2,50 m x 5 m groß sein. Man orientierte sich an Schlafwagenabteilen der Deutschen Reichsbahn. Alle Zimmer sollten Meerblick haben. 

1936 rief der Chefarchitekt Robert Lei elf Architekten nach Berlin, die ihre Vorschläge vorlegen sollten. Die Ausschreibung war eine Farce, denn es stand längst fest, wie, wo und was gebaut werden sollte.
Clemens Klotz, ein glühender Hitlerverehrer, übergab Hitler am 20. April  seine Entwurfsmappe. 

Bei   d e r    Zimmergröße sollten sich die Urlauber nur zum Schlafen in ihren Zimmern aufhalten. Man sollte sich in den 7 Tagen Urlaub mit anderen "Volksgenossen" rund um die Uhr treffen und bei Sport und Spiel nicht groß zur Besinnung und zum Nachdenken kommen. 

In riesigen Speisesälen sollten 1000 Urlauber abgespeist werden.
Ein Turmcafé, zwei Theatersäle für je 5000 Zuschauer, zwei Schwimm- und zwei Gymnastikhallen sowie Häuser für die Angestellten waren geplant, sind aber nie gebaut worden.
1939 wurde bereits die Bahnstrecke von Lietzow nach Prora eingeweiht und Straßen wurden gebaut. Eine riesige Empfangshalle mit Säulen und fünf großen Eingangstüren sollte die Gäste in Empfang nehmen. Von dort sollten sie mit Shattelbussen in eines der 550 m langen Blöcke befördert werden.
Acht Blöcke sollten gebaut werden, dazwischen offene Liegehallen, damit die Urlauber bei schlechtem Wetter ein Dach über den Kopf haben. Heute sind einige davon verglast. 

An dem denkwürdigen 2. Mai 1936 war die Grundsteinlegung, der Grundstein wurde aber nie wieder aufgefunden.
Genau an diesem Tag hatten sich 1933 die Nazis das gesamte Gewerkschafts-vermögen angeeignet.
Zur Grundsteinlegung fand ein Aufmarsch von 15.000 Menschen der verschiedensten Organisationen statt. 

Im Frühjahr 1937 begann man den Küstenwald für das ca. 4,5 km lange Bauobjekt zu roden. Hier gab es vorher eine wunderschöne bewaldete Dünenlandschaft.
Das Bauland gehörte der Familie zu Putbus. Der Fürst hatte das Gelände an die Deutsche Arbeitsfront übertragen, nicht verkauft. Damit wurden ihm Schulden getilgt, die er hatte.
Das ist auch der Grund, dass seine Erben nach der Wende das Land und die Insel Rügen nicht zurück erhalten haben. Es gehörte ihnen nicht mehr. 

Im Januar 1938 begann man Prora aufzubauen, im Herbst 38 war schon Richtfest (nach 9 Monaten Bauzeit).
Fahrstühle bis zur 6. Etage waren vorgesehen, die Sanitärtrakte zeigten alle zur Waldseite. Eine Gärtnerei sollte angelegt werden, um die hauseigene Küche zu versorgen.
Das Wasserwerk steht heute noch, ebenso die Kaianlage, an der Dampfer anlegen sollten.
Der Buschfunk berichtete damals vom Baum einer U-Bahnstrecke bis zum Portius der Empfangshalle. Es war aber nur ein Gerücht. 

Als 1939 der Baustopp kam, waren bis auf die letzten Blöcke Dächer auf den Häusern aber noch keine Fenster und Türen drin.
Das Baumaterial verschiffte man nach Peenemünde zur Heeresversuchsanstalt. 
Der gesamte Bau sollte 50 Millionen Reichsmark kosten, hatte aber bis 1939 bereits 64 Millionen verschlungen.

1939 brachte man sowjetische und polnische Zwangsarbeiter nach Prora, die den Bau sichern sollten, damit man 1941 (nach den geplanten Blitzkrieg) weiter bauen konnte. Insgesamt waren es 13 Millionen Zwangsarbeiter, die nach Deutschland verschleppt wurden. Wer sich weigerte, wurde nach Sibirien abtransportiert.
Die Zwangsarbeiter waren unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht und mussten täglich 14 Stunden schuften. Es war strengstens verboten, polnisch zu sprechen.
1942 richtete man in Prora ein Behelfslazarett ein. Mädchen leisteten hier ihr Pflichtjahr ab, Nachrichtenhelferinnen und Funkerinnen ihren Reichsarbeits-dienst. In diesen Jahren brachte die faschistische Polizei viele Partisanen um. 

1945 wurden kurzfristig in Prora Ausgebombte aus Hamburg und Bremen untergebracht.
Dann kam die Rote Armee in die Häuser.
Von 1945 - 49 bauten sie alles Verwend- und Brauchbare aus und nahmen das Material als Reparationskosten. 

1949 wurde ein riesiges Pionierlager fertig gestellt. Es gibt wenige Fotos aus diesen Jahren.

1953 zog die kasernierte Volkspolizei in die Häuser ein. Jetzt sprengte man von 8 Blöcken 3, die als Ruinen da standen. 

1956, nach Gründung der Nationalen Volksarmee, belegte diese die Häuser. Bis 1962 war sie noch freiwillig, im Januar 1962 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Jeder junge Mann musste 18 Monate dienen. 

Nun wurde das Areal für die Bevölkerung gesperrt. Die NVA baute die Blöcke aus.
Es kam eine Militärtechnische Schule und eine Offiziershochschule in ein Haus sowie zwei Fallschirmjäger-Batallione. 

Von 1982  bis zur Wende war Prora der größte Bausoldaten-Standort, für Jugendliche, die die Wehrpflicht verweigerten. Sie bauten den Hafen Mukran bei einer Arbeitszeit von täglich 12 Stunden.  Nach der Solidarnosch-Bewegung wollte man Polen umschiffen. 

Als sehr unbeliebter Ort war Prora ein Tabu-Thema in der DDR, ein Schandfleck sozusagen. 

1990 kam die Bundeswehr dorthin, die allerdings 1992 wieder abzog.
Seit dieser Zeit steht die Anlage unter Denkmalsschutz. 

Nach ihrer wechselvollen Geschichte streiten sich zur Zeit vier Investoren um die Nutzung. Der eine will eine Jugendherberge daraus machen, der nächste ein Sporthotel.
Unter diesen Aspekten wird Proras bewegte Vergangenheit fortgesetzt und eine Einigung ist noch lange nicht in Sicht.  

 

Roland oder Molli, das ist hier die Frage 

In unserem Kurzurlaub nach Rerik machten wir einen Ausflug nach Kühlungsborn, um mit dem „Molli“ nach Bad Doberan zu fahren. Einesteils um die Erinnerungen aufzufrischen und andererseits um ein bisschen Vergangenheit zu schnuppern.
Im Bahnhofsmuseum konnte man die alten Fahrkarten-Druckmaschinen, alte Eisenbahner-Uniformen, Weichensignale, Laternen und Schilder von Eisenbahnen bewundern, die man selber noch im Einsatz gesehen hat. 

Mit unseren Bekannten saßen wir bis zur Abfahrt des Zuges im antiken Wartesaal mit dem bekannten Mitropa-Charme.
Als wir endlich auf dem Bahnsteig standen, die Foto- und Filmapparate im Anschlag, in Erwartung der Schmalspurbahn, rief unsere Bekannte meinem Mann zu: „Jetzt kommt er, Roland!“
Das muss doch eine mitreisende ältere Dame falsch verstanden haben.
Ganz entrüstet drehte sie sich zu uns um und belehrte uns: „Das ist nicht der Roland, das ist der Molli!“ 

Bis wir ihr verklickert hatten, dass mein Mann Roland heißt und wir durchaus wissen, dass das der Molli ist, waren die Fensterplätze besetzt, und wir mussten bis zum nächsten Haltepunkt mit einem Stehplatz vorlieb nehmen. 

Die eine Stunde Aufenthalt in Heiligendamm bestätigte uns, dass wir nicht zu den Reichen und Schönen gehörten und deshalb als Zaungäste nur draußen bleiben konnten. Trotzdem beeindruckte uns das Weiß des Kempinski-Hotels und der übrigen Ferienanlagen und wir ignorierten die Schilder: Nur für Hotelgäste.

Auf der Weiterfahrt zuckelte und wackelte der Molli auf seinem Schienenstrang, durch die offenen Klappfenster zog der Qualm in die Abteile, legte sich auf die Stimmbänder, und der Lärm in den Waggons heilte uns etwas von unserer Nostalgie-Sehnsucht.
Als der Zug dann durch die engen Straßen von Bad Doberan fuhr, hatten wir das Gefühl von einem De-ja-vue-Erlebnis. Dass hier das Quellental für unser „Glashäger-Mineralwasser“ ist, hatten wir bis dato nicht gewusst. 

Und die Story, dass der Roland nun trotzdem im Molli gefahren ist, nahmen wir als  Souvenir mit nach Hause.


Schönes Mallorca 

Wer es einmal auf die Mittelmeerinsel geschafft hat, wird begeistert sein von der 3-B-Fahrt . Das heißt, wir fahren mit dem Bus, mit der Bahn, mit dem Boot.
Los geht´s!
Der Bus holt uns vom Hotel  „Mariant Park“ in Calla Millor gleich nach dem Frühstück ab, fährt mit uns zur Finca in Sa Pobla. Es ist für unsere Begriffe eine Bauernwirtschaft, heute umfunktioniert zur Besichtigung und Weinverkostung.
Weiter geht es mit dem Bus nach Bunyola.
Am alten Bahnhof aus der Jahrhundertwende erwartet uns der „Rote Blitz“, die Schmalspurbahn. Er verbindet die Hauptstadt Palma mit dem Naturhafen Sollér (Solljee), der Orangenmetropole im Goldenen Tal, wie die Mallorciner sagen.
Die Bahnanlage war ursprünglich gebaut worden, damit die Händler ihre Waren auf die Märkte befördern konnten.
 Der Blick aus dem Fenster bietet ein fantastisches Panorama. Tiefe Täler, hohe Berge und Apfelsinen-, Mandel- und Olivenplantagen so weit das Auge reicht.
Die Strecke bis Sollér ist 27 km lang. Die Bahnlinie wurde 1912 gebaut. Bis 1929 fuhren hier Dampfloks, dann elektrifizierte die Firma Siemens-Schuckert die Bahn. Sie erhielt den dunkelroten Anstrich, was ihr den Namen „Roter Blitz“ einbrachte. Sechs mal täglich pendelt sie zwischen Palma und Sollér, heute mit Touristen aus aller Herren Länder. 13 Tunnel durchfährt sie, der längste ist 3 km. Vergessen ist der Brand im St.Gotthart-Tunnel. Das passiert hier nicht! Nicht daran denken!
Es gibt aber auch einen mautpflichtigen Autotunnel durch den Coll de Sollér. Die Reiseleiterin lebt seit 20 Jahren hier und kann viel erzählen.
Wir sind berauscht von der Schönheit Mallorcas, von der Wärme zu Ostern, der Sonne und der Landschaft.
Vom Bahnhof Sollér geht es zu Fuß durch die kleine Stadt bis zum Hafen, wo das Schiff wartet.
Wer hätte das gedacht, dass die Insel solche bizarren Felslandschaften hat, die steil ins Wasser tauchen, oft ohne Strand. Viele Höhlen sieht man in den rotbraunen Felsen und Anwesen von bekannten Filmstars thronen auf hohen Bergrücken.
Es gibt also auch Abgeschiedenheit auf Mallorca.
Unheimlich ist es, mit solcher Nussschale zwischen diesen Felsmassiven herum zu schippern, kein Strand, nichts zum Festhalten. Dazu noch die schwarzen Rückenflossen irgendwelcher Riesenfische, die vor dem Schiff herschwimmen und
teilweise aus dem Wasser ragen. Delfine sind es nicht, die kennen wir.
Aber es geht alles gut, das Schiff legt nach einer stürmischen Umrundung der Westküste Mallorcas im Hafen von La Calobra an.
Dass es noch abenteuerlicher wird, haben wir nicht vermutet. Der Bus fährt uns nun in einer rasanten Steilfahrt durch tiefe Schluchten und hohe Berge, über Serpentinen und Haarnadelkurven, durch Baum- und Gerölllandschaften zurück. Nach jeder gelungenen Kurvenfahrt klatschen die Mitreisenden, weil der Fahrer so sicher fährt.
Erschöpft, aber glücklich nach so vielen wunderbaren Eindrücken steigen wir am späten Abend an unserem Hotel aus. Wir haben Mallorca heute von einer ganz anderen Seite kennen gelernt und nehmen die Erinnerungen als Gepäck mit nach Hause für die Zeiten, wo wir nicht mehr reisen können.       

 

Seepferdchen-Superstar 

Irgend etwas ist verkehrt,
eine Seenadel mit einem Kopf vom Pferd?
Den Schwanz von einer Schlange,
den Beutel von dem Känguru,
durchsichtig ist es wie aus Glas,
nun sage du, ist das ein Spaß? 

Hat Stacheln auf dem Rücken
und eine Flosse hat es auch.
Es wird sich doch nicht bücken
mit den vielen Kindern im Bauch.
Hier trägt der Vater sie aus,
die Mutter macht sich leider nichts draus. 

Ist das nicht eine verdrehte Welt?
Drum habe ich dem Seepferd bestellt:
Es soll zum Casting kommen.
Vielleicht wird es der Superstar der verkehrten Welt.

 

Unfreiwillige Zuhörer 

So ab und zu kommt es vor, dass ich mit meiner Tochter einkaufen gehe. Im Real haben wir uns dann anschließend beim Chinesen gebratene Ente süßsauer auf Reis geleistet.
Zwei Damen so um die 70 herum nahmen am Nachbartisch Platz und kamen ins Schwatzen. Weil sie ziemlich dicht neben uns saßen, hörten wir notgedrungen ihre Unterhaltung mit.
Und worüber unterhielten sie sich im leicht thüringischen Dialekt? Vielleicht waren es Urlauber?
Die Themen wechselten von der Jugendzeit über die erwachsenen Kinder, Enkelkinder, sogar ein Urenkel war schon geboren, neulich erst.
Dann kam man auf die Ehemänner zu sprechen und auf den Familienhund.
Politische Tagesereignisse wurden danach kurz gestreift, wobei man sich versicherte, mit Politik nichts am Hut zu haben.
 Über das schrecklich lange Winterwetter kam man auf die Urlaubsreise in südliche Gefilde, die im Mai bevorstand. Und als  d a s  Thema abgehakt war, diskutierten die beiden über die Mode, Rocklänge, Hosenbeinbreite, Stöckelschuhe zu Jeans, was man im Theater trägt und zur Kindtaufe. Ach ja, das Urenkelchen! 

Wir beschäftigten uns mit unserer chinesischen Ente und musterten unauffällig die  gesprächigen Damen.
Die eine war etwas rundlich, mit schwarzen Knopfaugen, lila Spülung im fast weißen Haar, lila Kaschmirpulli und Jeans, die andere - etwas schlankere - mit mahagonifarbener Dauerwelle, war mit einem Hahnentritt-Blazer darunter einer weißen Bluse mit Goldknöpfen und einer dunklen Hose bekleidet.
Sie hatten bei ihrem Schwatz ihre gebratenen Nudeln mit - ich nehme an mit Hähnchenfleisch - verzehrt und beratschlagten nun, ob sie sich wohl noch einen Donat leisten könnten. Eine kleine Weile überlegten sie, wogen wohl das Für und Wider ab und kamen überein, dass die ganze Hungerei doch für die Katz sei. Über 50 verbrennt der Körper die Schokolade nun nicht mehr, sondern speichert sie in den Pölsterchen für schlechte Zeiten. Die beiden lachten und waren sich einig. 

"Ich muss dir noch etwas erzählen" kündete die Rundliche an. "Neulich musste ich zum Orthopäden, du weißt schon, mein Rücken. Sagt der neue junge Doktor doch zu mir: "Ziehen Sie sich bitte aus" und ich mit Entsetzen "Etwa alles? Das wäre mir sehr peinlich in meinem Alter."
"Wie alt ist denn der Neue?" wollte nun die Mahagonifarbene wissen.
"Ziemlich jung noch" kam die Antwort. "Und dann wieselte da noch so ein junger Assistenzarzt herum."
"Also, ich hätte an deiner Stelle etwas anbehalten. In unserem Alter zeigt man sich nicht mehr so gern" konterte die Rötliche.
"Ja, aber wie willst du dem Orthopäden dein Skelett präsentieren, wenn du noch die Sachen anhast?" kam die Frage zurück.
"Ja, es ist alles nicht so einfach!" kamen die beiden Damen auf einen Nenner.
"Damals, als wir noch Mannequin-Figuren hatten, da hätte es mir nichts ausgemacht, aber heute." Es war ein wenig Bedauern in ihrer Stimme.
Pause.
Beide sinnierten wohl über vergangene Zeiten. 

Und dann erzählte die pummlige Dame weiter: "Diktiert der doch seiner Sekretärin nach dem Abtasten der Wirbelsäule von oben nach unten: Figur leicht adipös, X-Beine und Hallus valgus.
Ärzte haben heutzutage überhaupt kein Taktgefühl mehr, sie sollten sich schämen."

 

Unser täglich Gift … 

Eine Analyse chemischer Stoffe in unserer Nahrungskette ergab, dass die erlaubte Tagesdosis für Lebensmittel-Zusatzstoffe weit überschritten wird. Fazit: Die Chemie- und Lebensmittelkonzerne richten sich nicht danach.
2011 legte ein Gremium zwar die Grenzwerte für chemische Stoffe in Nahrungsmitteln fest und Zusatzstoffe wie viel mg/kg enthalten sein dürfen, aber in der Praxis sieht es anders aus.
Die Daten werden als Betriebsgeheimnisse geheim gehalten und sind Eigentum der Unternehmen. Besser wäre es doch, die Verbraucher wären darüber aufgeklärt und die Daten wären Gemeingut. Aber die Chemie-Industrie beschönigt die Fakten.
Schon Paracelsus sagte: Die Dosis macht das Gift. Und chemische Stoffe sind für den menschlichen Organismus immer giftig, können z. T. durch die Organe nicht abgebaut werden. 

Eine Statistik ergab weiterhin, dass jährlich 200.000 Menschen an Pestiziden sterben. Parkinson und Alzheimer nehmen rasant zu. 

Täglich muss der Körper mit Pestiziden in Gemüse und Obst fertig werden. Farbstoffe kommen dazu, Herbizide gegen Unkraut auf den Äckern, Fungizide gegen Pilze, Antibiotika und Dioxin in Fleisch und Eiern, Zusatzstoffe und Lösungsmittel.  Also ein Haufen Gift für den Körper. 

Besonders bei Landwirten, die die Herbizide einatmen, besteht ein Zusammenhang mit Krebs, Haut- und Nervenleiden.
Vorbild für den Einsatz von Herbiziden waren in den 50er Jahren die USA, die diese Gifte massenhaft herstellten und exportierten und auch die Maschinen dazu, mit denen diese eingesetzt werden konnten.

Die Krankenkassen waren gezwungen, zuzugeben, dass der Einsatz von Pestiziden Parkinson fördert.
Insektizide mit Chloranteil erhöhten weiter das Risiko für Berufskrankheiten. 

Das Statistische Amt für Lebensmittelindustrie bestätigte jetzt, dass jährlich 25 Millionen Euro für Pestizide allein in Deutschland ausgegeben werden.
Allergien und Asthma, Blutkrebsarten, Leukämie, Hirntumore, Prostatakrebs und Hautkrebsarten, ganz zu schweigen vom Einsatz von Asbest und Benzol sind die Folge des Einsatzes dieser Gifte. 

Es heißt doch immer, wir sind verantwortlich für die Umweltverschmutzung.
Sollen wir nur noch zum Bio-Produkt greifen? Aber ist das sicherer? Teurer auf alle Fälle. 

Die Toxikologen schlagen Alarm und die Unternehmen tragen die Gewinne.
Und der Verbraucher? Der trägt das Risiko! 

Man braucht nur eine Zeit verstreichen zu lassen, dann ist eine neue Keimzeit in aller Munde.
So wurden im Monat Juni 2011 Hunderte Menschen mit dem Krankenhauskeim EHEC infiziert. Ein Keim, der fast 40 Menschen das Leben kostete. Hauptsächlich im Norden Deutschlands gab es diese Krankheit: blutige Durchfälle bis hin zum totalen Nierenversagen. Und was war die Ursache? Die Zeitungen berichteten täglich von verunreinigtem Saatgut, man vernichtete die gesamte Gurkenernte in Spanien, gab den Tomaten, Radieschen, dem Salat und zuletzt den Sprossen die Schuld.
210 Millionen Euro Entschädigung sollte Deutschland den Unternehmen als Entschädigung zahlen. 

Was soll man noch mit Freude essen, wenn schon Keime im Saatgut sind? Sind unsere Felder evtl. schon vergiftet? Ist demnächst unser Brotgetreide verunreinigt?
Man möchte den Gedanken gar nicht zu Ende denken. 
 

Was mir fehlt 

Eigentlich fehlt mir nichts. Ich habe eine Familie, eine Rente, eine schöne, helle und trockne Wohnung, viele Bekannte und Freunde und gesund bin ich auch noch halbwegs.
Und doch fehlt mir etwas. 

Mir fehlt der Tante Emma-Laden an der Ecke, der Hund der Familie, der Straßenbahnschaffner (wenn wir mal in Leipzig sind), der Duft von Heu, mein alter Schallplattenspieler und der Mittagsschlaf vom Großvater (mit gerade gezogenen Hosenbeinen), die Hausaufgaben meiner Kinder, die Gesundheit meines Mannes, der Gasanzünder mit dem Feuerstein vor der Reibefläche, die Flotte Lotte, die schwarz-weiß Fotos mit dem Zackenrand und und und und. 

Manchmal frage ich mich, wie kann man leben mit so vielen Verlusten? Wiegt das Neue das Alte auf? Ist es jetzt besser? Auf jeden Fall ist es anders. Man soll ja nicht immer am Alten kleben.
Unseren Kindern und Enkelkindern wird später gerade das fehlen, was uns heute so neu erscheint. Es wird ein Spiel der Generationen sein. 

Früher hasste ich es, wenn die Freunde oder Nachbarn sich meinen Mann ausborgten, um irgendwelche Bau-, Holz-  oder Malerarbeiten zu Ende zu bringen. Heute geht es nicht mehr, gesundheitshalber. Ist auch gut so.
Dafür kleben Spickzettel an der Magnetwand: Arzttermin am 3.4., 9.30 Uhr, Fußpflege, Seniorenakademie am … und der Hackenporsche wartet auch schon in der Ecke. 

Die Schwelle, dass mir diese Zettel und dieser Abschnitt im Leben einmal fehlen, kann ich nur noch einmal überschreiten.
Aber auch dann wird mir etwas fehlen, nämlich das Leben.

Wer A sagt muss nicht immer B sagen 

Der D-Zug lief im Hauptbahnhof ein. Die ganze Fahrt über hatte es geregnet. Ein schlechtes Omen? 

Mit einem Geschenk im Koffer stieg die junge Familie erwartungsvoll aus. Sie war zur Hochzeitsfeier aus Mecklenburg nach Sachsen gekommen, die Kinder trugen die Blumenstreu-Körbchen in einer Plastiktüre vor sich her. Der Lautsprecher tönte und sagte mit monotoner Stimme die Anschlusszüge an. Die Leute schubsten und drängelten. Ein Stimmengewirr ringsherum.  
Da stand die Braut auf dem Bahnsteig, um die Gäste zu ihrer morgigen  Feier abzuholen. Doch was war das? Sie hatte ja ganz verweinte Augen. Was war passiert? 

Unter Tränen erzählte sie, dass sie die Hochzeit heute, am Polterabend, abgesagt hat. Es tut ihr Leid für alle Beteiligten, aber es ging nicht anders. 

Viele Gäste waren bereits eingetroffen, die Hotelbetten und das Hochzeitsmenü bestellt, das teure Brautkleid und der Schleier hingen zu Hause am Kleiderschrank, die goldenen Ringe lagen graviert im Samtkästchen und der Hochzeitsstrauß war in Arbeit. 

Wie konnte man diesen großen Aufwand rückgängig machen? 

Die Gästen waren teilweise von weither angereist, sie mussten übernachten, etwas zu essen bekommen, wollten sich nach Jahren treffen und wieder sehen. 

Nach Absprache mit den Eltern kam man überein, eine Feier findet statt, zwar keine Hochzeit aber eine Wiedersehensfeier mit den Verwandten und Bekannten, die dann trotzdem noch die Geschenke auspackten. 

Wer hat schon einmal eine Hochzeit ohne den Bräutigam gefeiert? Hatte er kalte Füße bekommen? Nein! Die Braut hatte sich anders besonnen. Der angehende Rechtsanwalt hatte am Morgen des Polterabends die Katze aus dem Sack gelassen. Er wollte alles unter Kontrolle haben. Das Lehrergehalt seiner Zukünftigen sollte auf sein Konto gehen, die Wohnung hatte er ohne ihr Wissen bereits angemietet, teilweise schon mit Möbeln ausgestattet bzw. bestellt.
Das war zuviel! Das war keine Überraschung für die Braut, sondern eine Bevormundung. Das konnte nicht gut gehen.
Ein Wort gab das andere. Die Braut geriet in Panik. 

Und die Gäste? Nach dem ersten Schock wurde es noch eine schöne Feier mit erlesenen Speisen, Hotelübernachuntungen und einem wunderschönen Hochzeitsstrauß auf dem Tisch aber ohne einen Bräutigam, der dann noch nach Paragraph sowieso die Geschenke geteilt haben wollte.  

 

Zu spät

Erst als es Lina nicht mehr gab, kam die Wahrheit ans Tageslicht, tröpfchenweise.
Dabei hatte sie durchaus nicht das Alter, in dem man stirbt. Mit 17 Jahren stirbt man nicht, es sei denn man hatte einen schweren Unfall oder man ist unheilbar krank. Lina war nichts dergleichen zugestoßen, sie hatte   n u r   ein uneheliches Kind bekommen „Vater unbekannt“.
Das war 1910 eine große Schande.
Ihre Mutter Emilie hatte Lina bekommen, als sie beim Gutsherren in  „Stellung“ war, wie man das früher nannte.
Die Gnädige war großzügig, Emilie durfte bleiben, auch als Lina schon geboren war. Mit Kind und Kegel sagte man damals und Lina wuchs als Kegel bei Emilie in der Gutsküche auf.
Als sie vier Jahre alt war, verguckte sich der Großknecht in ihre Mutter. Sie heirateten und Lina bekam einen Vater.
Der hatte ein wenig Geld zusammengespart, so dass sie in der nahen Stadt eine Dreizimmer-Wohnung mieten konnten.
Sieben Schwestern bekam Lina in den nächsten 13 Jahren und sie lernte, wie man sie versorgen und pflegen musste, lehrte sie laufen und war fleißig und gelehrsam. 

Lina war ein hübsches junges Mädchen geworden, als sie anfing, sich im Mädchenzimmer einzuschließen. Bei so vielen Schwestern war das aber nicht leicht zu bewerkstelligen. Entweder wollte eine der Schwestern zu ihr oder die Mutter rief Lina. 

Diese sah mit Besorgnis, dass irgendetwas mit ihrer Großen nicht stimmte.
„Kannst du mir nicht anvertrauen was du für Sorgen hast?“
„Nein, Mutter! Lass mich in Ruhe! Mir ist nicht zu helfen und du bist die Letzte, der ich das sagen könnte!“
Emilie umarmte Lina und machte sich weiter ihre Gedanken.
An einem anderen Tag fragte sie:
„Hast du Ärger in der Baumwollspinnerei?“
Lina arbeitete schon drei Jahre in der „Spinne“, wo der Vater jetzt Meister war.
„Nein!“
„Bist du unglücklich verliebt?“
Es kam wieder ein Nein. Lina wollte nicht darüber reden.
Aber wie Mütter so sind, Emilie bohrte weiter:
„Liegt es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, Mutter, du nicht.“
„Wer denn sonst? Der Vater?“
Lina lief aus dem Zimmer, schloss sich im Mädchenzimmer ein und weinte leise vor sich hin.
Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen und plötzlich bekam Emilie einen schlimmen Verdacht. 

Wochen vergingen. Lina aß kaum noch, magerte stark ab, wurde immer schwächer und wollte oder konnte nicht mehr zur Arbeit gehen. Sie schnürte sich.
Die Leute tratschten.
Es wurde immer offensichtlicher, sie bekam ein Kind.
Nun lag die die meiste Zeit des Tages zusammengerollt im Bett, weinte, schlief, sprach nicht mehr.
Die letzten Wochen der Schwangerschaft war sie zu schwach zum Aufstehen. Ihre einstige Frische und Jugendlichkeit waren gänzlich verschwunden.
Es wurde eine schwierige Hausgeburt. Lina konnte kaum dazu beitragen, das Kind auf die Welt zu bringen.
Es war ein Mädchen, Helene.
Die Hebamme wollte es ihr in den Arm legen.
Lina sträubte sich mit letzter Kraft.
„Bringt es weg!“
Das waren ihre letzten Worte. Sie drehte sich zur Wand und reagierte auf nichts mehr.
In der darauf folgenden Nacht starb sie vor Erschöpfung, Schwäche und Kummer.
Emilie schüttelte sie und schrie sie fast an:
„Du kannst es doch nicht alleine lassen!“ 

Nun hatte Emilie ein achtes Kind.
Es war ihr Kind, und sie liebte es auch wie ihr eigenes Kind und es hatte ja einen Vater, der jedoch nie zur Rechenschaft gezogen wurde. 


 
   
 
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